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Woher kommt eigentlich unser Begriff der Individualität?

  • Autorenbild: sophiasblog77
    sophiasblog77
  • 5. Mai
  • 15 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 12. Juni


Das war zuletzt eine Frage in einem meiner Seminare. Wir sprachen gerade über Schopenhauers Mitleidsethik und über seine „Welt als Wille und Vorstellung“. Unter dessen kamen wir darauf, dass Schopenhauer die Ansicht eines unveränderlichen Charakters vertritt. Ein Teilnehmer fragte, ob der Charakter bei Schopenhauer von Person zu Person trotzdem individuell sei. Und ja, Schopenhauer geht von individuellen Charakteren aus, die aber innerlich in ihrem Kern unveränderlich seien und sich bloß ihre äußere Erscheinungsweise "verändert" verhalten könne. Unsere Diskussion driftete dabei immer weiter ab von Schopenhauers Mitleidsethik und ich kann es uns auch nicht verdenken. Schließlich ist Schopenhauers Philosophie schwer verdaulich. Mein Freund Malte, der im Grunde Schuld daran ist, dass ich Philosophin geworden bin, sagte über Schopenhauers Philosophie, dass sie nicht glücklich mache. Sie bringe zwar Erkenntnis, aber sie mache nicht glücklich. Und ohne, dass ich Malte jemals danach fragte, wie er das mit dem glücklich-sein denn eigentlich meine, wage ich zu behaupten, dass er damit meint, dass Schopenhauers Pfad zur Glückseligkeit sich perspektivisch entgegen allen Optimismus richtet. Vielmehr erwächst sein Pfad aus einer der höchsten Form des Pessimismus und mit "Glück" erblüht daraus eine realistische Einsicht. Schließlich lautet Schopenhauers Parole „Alles Leben ist Leiden“, die mit der Erkenntnis einhergeht, dass wir alle Leidensgenoss*innen sind, sodass wir uns sogar als solche ansprechen sollten, schwingt bei all seiner Philosophie stets eine Portion Pessimismus mit. Natürlich ist Schopenhauers Erkenntnis keine reine Glückssache. Er liefert triftige Argumente, die begründen, warum sein Pfad der Glückseligkeit vernünftig ist.

Aber um Schopenhauers Pfad zur Glückseligkeit soll es jetzt ja gar nicht gehen. Sondern um die Frage, woher unser Begriff der Individualität kommt. Schopenhauers Verständnis zum individuellen Charakter zeigt uns hierbei, dass wir Philosophien immer im geschichtlich-historischen Kontext betrachten müssen. Denn unser zeitgenössischer Begriff der Individualität ist nichts, womit unsere Menschwerdung begann. Im Grunde ist unser Individualitätsverständnis im Vergleich zu unser gesamten Zeit, die es uns - als Individuum „Mensch“ - schon gibt en vogue.

Lasst uns also einmal unseren Blick kurz in die Antike schwenken. Dorthin, wo und wann unser philosophisches Denken des Abendlandes begonnen hat und unser Begriff der Individualität seinen Anfang nimmt. In der Regel beginnt unsere Geschichte der Philosophie bei Thales (ca. 624 v. Chr. - ca. 544 v. Chr.). Aber aus meiner Sicht beginnt unser abendländisch-philosophisches Denken schon mit den Schriften von Homer  (lebte ca. 850 oder 1200 v. Chr.) und Hesiod (wahrscheinlich ca. 700 v. Chr.). Allerdings sind sie Dichter und legen den Grund unserer Welt mythologisch aus. Mit Thales beginnen wir, weil wir die Ansicht vertreten, dass unser Denken mit ihm andere Erkenntnis-Strategien entwickelt habe, das unter anderem daran zu erkennen sei, dass wir Erkenntisse in Prosa darlegen statt in Gedichten. Diese Einteilung ist allerdings umstritten und steht aktuell zur Debatte mit der Frage, ob poetische Formen nicht doch ebenso wissenschaftliche Erkenntnisse darlegen können. Tatsache ist, dass unser Denken durch die Lehren des Homer und Hesiod geprägt bleibt. In dem Blog über „Mnemosyne - tanzt tanzt sonst vergessen wir einander - über eine Kunst sich zu erinnern“ gehe ich explizit auf das Verhältnis von der Mythenlehren zur Philosophie ein.

Jetzt geht es vielmehr darum, dass wir uns vergegenwärtigen, wie sich unser Individualitäts-Begriff entwickelt hat. Und hierbei ist der Rückbezug auf die Mythen und das Musische nicht ganz unwichtig. Schließlich lässt sich anhand unseres damaligen musischen Verständnis zeigen, dass wir damals noch nicht in Dualismen dachten. Unser Seelen-Begriff war noch an ein mythologisches Einheits-Denken über die Beschaffenheit und Struktur der Welt gekoppelt. Während des altgriechischen Sprachraumes existierte nämlich noch kein Verständnis über Individual-Seelen, wie neuzeitlich beispielsweise in der Psychologie. Die Seele war als Weltseele begriffen, die den Körpern das Leben einhaucht. Das bedeutet, dass daran geglaubt wurde, dass alle an derselben Seele partizipieren. Die Seele hat sich also wie ein Splitter einkörpert. Es bestand somit kein Unterschied zwischen dem Holz aus dem ich oder du gemacht sind. Unsere Seelen sind nach antiker Vorstellung (noch) aus einem Holz geschnitzt. Mag sein, dass sich unser neuzeitliches Denken schon zu sehr automatisch-differenziert abstrahiert, dass wir uns das nur noch schlecht vorstellen können und einwenden, dass selbst ein Stück Holz nicht mehr ein und dasselbe ist, wenn wir es teilen. Aber dies ist eben bloß ein Vergleich, der veranschaulichen soll, was wir früher vor über 2000 Jahren unter dem Begriff „Seele“ vorstellten.

Anhand des antiken musischen Verständnis lässt sich das noch konkreter nachvollziehen. Denn zu dieser Zeit denken wir bei dem Begriff „mousikê“ nicht an eine rein musikalische Darbietung, sondern an die Einheit von Tanz, Gesang, Dichtung und Rede. Die Musen, die übrigens die Töchter der Göttin der Erinnerung und des Gedächtnis Mnemosyne sind, waren nämlich wie unsere Seelen als Einheit verstanden und wurden meistens auch so vorgetragen. Das heißt nicht, dass es beispielsweise keine einzelnen reinen instrumentellen Darbietungen gegeben hat. Aber es existierten eben noch keine autonomen Künste. Hiermit wird das Denken des Schopenhauers über sein Verständnis des unveränderlichen, aber individuellen Charakters eventuell etwas anschaulicher. Während es also während der Antike schon "verschiedene" musische Formen gibt, wie Rede, Dichtung Gesang und Tanz, machen sie aber den ganzen Charakter des Musischen oder der Muse aus. Das wiederum daran liegt, dass sie sich alle durch dasselbe rhythmische Verfahren gestalten. Das heißt also, dass das Musische in-sich, wie Schopenhauers Charakter, unveränderlich bleibt, aber trotzdem individuell ist. Denn die je einzelne Muse gestaltet sich zwar aus dem gleichen "Material" - also aus dem gleichen Rythmusverfahren, das allen Musen prinzipiell zugrunde liegt -, aber eben individuell, weil Tanz und Dichtung eben unterschiedlich sind. Und ebenso bleibt der Charakter von Tanz eben Tanz und wird nicht Dichtung, aber kein Tanz gleicht dem anderen, wie Schopenhauers Charakter sich verändert verhalten kann.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Aristoteles beispielsweise (384 v.Chr.- 322 v.Chr.) über das Individuum sagt, dass aus dem Individuum - dem Einzelnen - keine wissenschaftlichen Erkenntnisse kommen können, weil das Individuum - das Einzelne - nämlich gar nicht in der Lage sei die Allgemeinheit zu benennen. Wir müssen also von dem Standpunkt des Allgemeinen heraus die Welt und ihre Phänomene betrachten, um adäquate (heißt hier universelle) Aussagen über ihre Beschaffenheit machen zu können. Übertragen auf unser Musen-Beispiel heißt es zusammengefasst, dass wir eben keine allgemeinen Aussagen über das Musische machen können nur vom Standpunkt "Individuum" des Gesangs, sondern eben alle anderen, wie Rede, Dichtung und Tanz, einbeziehen müssen.

Wohl an sollten wir dazu wissen, dass das Individuum, das Individuelle oder die Individualität noch gar nicht so stark spezifisch nur auf uns Menschen begrenzt war, sondern generell erstmal das „Unteilbare“ bezeichnete. Übersetzen wir das lateinische Wort „Individuum“, das das „Unteilbare“ heißt, ins altgriechische, dann landen wir bei „atomon“. Wir hören hier eventuell schon die Ähnlichkeit zu unserem Wort „Atom“ heraus. Und ebenso in diesem technisch-stofflichen Sinne - als nicht weiter differenzierte Einzelheit - verstehen wir zuerst den Begriff der Individualität, des Individuellen oder des Individuums. Hier begegnen wir also einer Individualität, die ein unumstößliches und statisches Bild bezeichnet.

Wenn wir an unser zeitgenössisches Verständnis des Individuums denken und dazu philosophische Wörterbücher befragen, dann finden wir eindeutig spezifische Verständnisse vor auf uns Menschen gerichtet und vor allem auch immer mit einem anreichernden Logos („Logos“ meint auch „Sinn“ oder „Verständnis“). Das heißt, dass wir unter dem "Individuellen" nichts abgeschlossenes, unumstößliches oder statisches verstehen. Vielmehr begreifen wir unsere Individualtät als ein Schaffensprozess. Heutzutage steht unser Individuums-Begriff also überhaupt nicht fest, sondern unterliegt je seinem eigenen - individuell-persönlichen - Wandel und Wachstum. Ebenso vertreten wir die Ansicht, dass unsere Individualität sich gerade durch das Teilen bzw. durch unsere Einbettung in die Welt gestaltet. Jedoch heißt das Individuum heute trotzdem noch „Einzelmensch im Verhältnis bzw. im Gegensatz zur Gemeinschaft“ und „Individualität“ begreife sich als Lebensausdruck, der im Handeln und Sprechen geformt werde. Vor diesem Hintergrund kann ich gut verstehen, wenn wir uns fragen, woher eigentlich unser Begriff der Individualität kommt. Und wenn wir nachschauen, woher er kommt, dann haben wir jetzt gesehen, dass sich damit noch nicht viel beantwortet. Wir müssten nämlich fast 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte vom Atomon bis zur Individualität, die wir auch als Ergebnis der Selbstverwirklichung verstehen, nachvollziehen, um überhaupt ansatzweise eine adäquate Antwort darauf formulieren zu können. Gar kein Problem, wir haben ja unsere Geschichte in diversen Büchern festgehalten, dokumentiert, interpretiert und diskutiert. Es könnte nur einige Semester dauern bis wir uns darin zurecht finden. Ich habe beispielsweise ungefähr vor 15 Jahren angefangen ernsthaft Philosophie zu studieren und ich muss sagen, obwohl ich mich täglich dem Philosophie-Studium widme, ist die Frage nach der Individualität für mich noch längst nicht geklärt. Und ich kenne auch keine oder keinen meiner Kolleg*innen für die das jemals geklärt wäre. Klar, zum einen liegt es daran, dass der Begriff etwas bezeichnet, das selbst wächst. Verstehen wir „Individuum“ oder „Individualität“ zeitgenössisch dann stehen wir nicht nur in unserem eigenen Angesicht, sondern überhaupt im Angesicht der Menschen - der Menschheit -, kurzum: Wir haben es mit dem Angesicht eines Lebewesens zu tun. Und die zeitliche Gerichtetheit von Lebewesen geht vorwärts. Wie Kierkegaard (1813-1855) einst feststellte, dass wir uns zwar rückwärts erinnern, aber nur vorwärts leben können. Unsere "Individualität" geht also Hand in Hand mit unserem Leben nach vorwärts. Posthum erinnern wir uns zwar an das, was wir gewesen waren. Aber ins Vorwärts und Ungewisse bewegen wir uns - und bilden unsere Individualität aus. Und sind aber auch schon gleichzeitig ausgebildetes Individuum. Das bedeutet also, dass wir unseren Begriff über uns selbst als „Individuum“ noch gar nicht kennen und nie ganz kennen lernen werden, obwohl wir es immer schon sind oder waren oder werden.

So kommt auch Wolfgang Iser (1926-2007) zu dem Schluss, dass bei der Individualität eine uneinholbare Differenz zwischen Aktualität der Individualisierung und den Darstellungen, wie sich die Individualität gibt. Von daher habe die - oder unsere - Individualität in sich das Problem einer prinzipiellen Unverfügbarkeit. Wir können es, unsere Individualität, nicht hinreichend qualifizieren. Unsere Individualität bzw. unser persönlicher Begriff unserer eigenen Individualität entrinnt uns eben stets augenblicklich aus unseren Händen, wie Sand aus einer Faust. Schließlich ist das Jetzt jetzt schon immer vorbei oder das Jetzt, das ich jetzt aufschreibe, ist jetzt schon schal, wie Hegel in seiner Einleitung zur Phänomenologie des Geistes schreibt.

Und Hegel legt im Übrigen nicht nur in diesem Werk eine Stufenlehre über die Genealogie unseres Denkens dar. Sondern in seinem Hauptwerk, in der Wissenschaft der Logik, geht er Schritt für Schritt die Bewegung unseres Denkens durch. Er begründet, dass unser Denken dynamisch strukturiert ist. Und damit zeigt er letztlich, dass unser Denken individualisierend bzw. differenzierend vorgeht. Kurz gefasst: Wir denken oder erkennen nichts ohne seinen Gegensatz. Der Widerspruch, den wir Jahrhunderte lang, Dank Aristoteles, ausgeschlossen haben, stellt sich als Wurzel unseres Denkens heraus und wird mit Hegel nicht ausgeschlossen, sondern treibt die Bewegung unseres Denkens erst an und das permanent. Also versteht Hegel den Widerspruch als etwas, das sich nicht gegenseitig ausschließt, sondern einander bedingt und braucht. Vereinfacht gesagt bezogen auf unseren Begriff der Individualität brauchen wir also Dualismen, um uns zu erkennen. Aber mit Hegel sind sie eben keine Getrennten, was wir nämlich sonst meistens unter "Dualismen" verstehen, sondern bloß Unterschiedene.


Lohnt es sich da überhaupt noch über seine eigene Individualität Gedanken zu machen? Wenn sie sich sowieso permanent anreichert und es für uns aufgrund unserer eigenen Zeitlichkeit unmöglich bleibt sie jemals zu begreifen? Und war es früher besser als wir uns, bzw. unsere Seele als Weltseele, noch als Einheit von Ich und Welt begriffen haben?

Zunächst sollten wir wissen, dass wir während des altgriechischen Sprachraumes trotz Weltseele ein Verständnis von uns Selbst, Ich und Welt gehabt haben. Heraklit, von dem Hegel übrigens behauptet, dass es keinen Satz des Heraklit gäbe, der nicht in seiner Wissenschaft der Logik vorkäme, schreibt, dass das Denken uns allen gemein ist. Damit meint er, dass es kein Privatdenken gäbe und unterstreicht damit ein antikes anti-dualistisches Ideal. Denn er will damit sagen, dass sich kein Denken vor dem anderen als besser oder schlechter auszeichnet. Schließlich beobachtet er nämlich an seinen Mitmenschen, dass sie sich für klüger und überlegender halten. Tatsache bleibt aber, dass wir eben alle des Denkens fähig sind und nicht beurteilen können, was in den anderen vorgeht, sodass es letztlich dumm wäre, wenn wir uns für klüger oder überlegender halten würden. Schließlich können wir eben gar nicht wissen, was in den anderen vorgeht. Es existiert also mindestens schon ein rudimentäres Verständnis über unsere zeitgenössische Individualität. Und zwar im folgenden Sinne, wenn wir die Individualität als etwas verstehen, dass sich aus der Differenzierung heraus erst bildet. Diesen Begriff haben wir  übrigens während des Deutschen Idealismus (bspw. mit Hegel) präzise vorgebildet und arbeiten uns bis heute daran ab. So vertritt sich mit Humboldt (1769-1859) die Ansicht, dass Bildung nur möglich sei über die Vielfalt der Individuen.

Natürlich zitiere ich nicht ohne Grund Heraklit, sondern will damit zeigen, dass wir bereits während des altgriechischen Sprachraumes unseren Individualitäts-Begriff schon vorbereitet haben. Mit Heraklit zeigt sich nämlich, dass wir im Grunde vorbegrifflich unsere Individualität ausdrückten. "Vorbegrifflich" meint, dass wir uns noch keinen Begriff davon machten. Das soviel heißt, dass wir noch keine allgemeine Idee unserer Individualität formulierten. Wenngleich Heraklits Philosophie mit jedem seiner Sätze unsere Individualität anspricht und ihre Struktur als Einheit der Gegensätze darlegt.

Zum anderen bin ich davon überzeugt, dass unser Woher uns eine Tendenz auf die Latenz unseres Wohin verrät und es sich deshalb empfiehlt, wenn wir uns darauf zurück besinnen. Insbesondere bei unserem Massenkult der Individualität, der einher geht mit einem Wahn zur Selbstverwirklichung, die unter enormen Druck steht und so schnell in eine leere Selbstdarstellung abschlittern kann. Das Zurückbesinnen auf unseren ursprünglichen Individualitäts-Begriff als das schlichte Einzelne und Unteilbare, trägt nämlich bereits den Geschmack von Iser: Dass unsere Individualität uns selbst unnahbar bleibt, weil sie uns eben sozusagen voraus geht oder weil wir eben nicht alles posthum reflektieren können. Vor diesem Hintergrund können wir eventuell etwas den Druck bei uns herausnehmen, indem wir uns nicht gezwungen fühlen für jede Situation unsere Individualität begrifflich auszudrücken. Manchmal wissen wir eben noch gar nicht, wer wir sind oder sein wollen. Beispielsweise könnten wir behaupten, dass wir niemals eine Schwangerschaft abbrechen würden, aber wenn wir erstmal in die Situation geraten, tun wir es vielleicht doch. Bei all unseren je eigenen begrifflichen Individualitäten sollten wir nicht vergessen, dass unsere Wirklichkeit unser Gemeinplatz ist. Das impliziert, dass nicht nur Ich nicht immer weiß, wer ich sein möchte oder bin, sondern das wir alle es ganz oft nicht begrifflich ausdrücken können.

Ein anderer Satz des Heraklit sagt, dass er sich selbst nachgeforscht habe. Damit lädt er aber nicht zur Selbstverliebtheit ein. Vielmehr hebt er die Selbstbeobachtung als Selbststudium hervor. Durch die Selbstnachforschung gewinnen wir nämlich Zugang zu unserer Einstellung, die wir zu unserem eigenen "Dämon" nehmen. Im altgriechischen heißt "Dämon" auch Geist oder Seele. In sich selbst den Dämon zu erkennen, bringt also Verständnis und ebenso Nachsicht für die anderen und ihren Dämon. Allein schon aus der Selbsterkenntnis heraus, dass wir eben alle so einen Dämon haben, der uns nicht trennt, sondern bloß unterscheidet. Hierbei kommt es natürlich darauf an, dass wir uns unseren eigenen Widerständen sowie Hindernissen stellen und sie vor allem zulassen. Andernfalls sehen wir nicht unsere ganze Einstellung zu unserem Dämon. Es heißt nicht, dass wir dann alle unsere Dämonen auch ausleben, sondern ihre Kraft und ihr Potential entsprechend umwandeln. Damit gehen wir einen Weg, wo wir unserer wirklichen Individualität begegnen. Unsere Individualität ist nämlich im Grunde nichts, was wir uns aussuchen. Ihr Kern der "Unteilbarkeit" beschreibt unsere Substanz oder wir können es auch als Material verstehen oder als das Holz begreifen aus dem wir geschnitzt sind. Unsere äußerliche Erscheinung veranschaulicht es, wie beispielsweise unsere Körpergröße, dessen Ausdehnung wir nicht in der Hand haben. Ebenso versteht sich also die Unveränderlichkeit des Charakters bei Schopenhauer. Aber was wir eben doch verändern können ist unser Verhalten zu unseren Charakter. Wenn wir also unseren eigenen Widerständen, Hindernissen und Unzulänglichkeiten aus dem Weg gehen bzw. uns blind machen für sie, dann werden wir unsere Individualität nicht wirklich ausschöpfen.

Wir sehen hiermit, dass zwischen dem antiken Verständnis und dem des Schopenhauers zwar etliche Jahrzehnte, Leben und Welten liegen, aber entdecken eben auch darin Überschneidungen. So subsumieren wir beispielsweise Philosophien von der Antike bis zum Mittelalter unter den Titel „Erkenne die Welt“. Später heißt es "Erkenne dich selbst" und noch weiter sagen wir "Sei du selbst". Von einem religiös-spirituellen Kontext heraus, wissen wir wie nah Erkennen und Sein beeinander liegen. Aber trotzdem ist es auch wichtig sich die unterschiedlichen Perspektiven anzuschauen, weil sie nämlich verschiedenes evoziieren.

Unser philosophisches Fragen rührte nämlich unter dem Titel "Erkenne die Welt" aus existentieller Not. Wir leben in einer Zeit, in der wir geprägt werden vom Leid und Kummer verursacht durch massive Naturkatastrophen, wie beispielsweise die Folgen von Vulkanausbrüchen. Mythologische Welterklärungen ließen unsere Probleme nicht nur ungelöst, sondern sie befreiten und erlösten uns auch nicht mehr. Wir suchten also nach Wegen uns den Grund unserer Welt und Eistenz aus eigenen Beobachtungen über unsere Erfahrungswirklichkeit zu erschließen. Es geht uns also auch unter dem Titel "Erkenne die Welt" um die Frage unseres Seins. Aber es ist eben nicht die Perspektive aus der wir unser Sein betrachten, sondern vor dem Hintergrund der Realisierung, das alle eben in der Lage sind die Welt selbst zu erkennen.

Schon damals stellten wir also während der Antike bereits die Fragen, worauf sich unser philosophisches Selbstverständnis noch heute stützt, wie beispielsweise:


Was ist das gute Leben? Was ist Wahrheit? Hat das Leben einen Sinn? Wo steht der Mensch in der Natur und im Kosmos? Gibt es Gott?


Wir sehen also, dass unser Individualitäts-Begriff sich nicht ohne Kontext versteht. In seiner Definition als das Unteilbare begegnen wir der Tatsache, dass wir unsere Individualität niemals umfassen können und sich daher immer noch als etwas „Unteilbares“ versteht. Und Zugleich berührt die Definition unser Erleben mit unserer Identität bzw. Individualität. Denn wir erfahren unsere verschiedenen Phasen im Leben nicht als Einzelding, wie Perlen auf einer Kette, sondern unser Leben erscheint uns als Kontinuität. Wenngleich wir uns wahrscheinlich nicht mehr mit dem Ich identifizieren, das seine Sandkastenliebe heiraten wollte. Dann tragen wir dieses Ich in unseren ganzen anderen Identifikationen mit. Andernfalls wäre es nicht möglich gleichzeitig Tochter und Mutter oder Sohn und Vater zu sein. Selbstredend schließt diese Erkenntnis über diese Tatsache nicht aus, dass es deshalb nicht unkomplizierter wird mehrere Rollen zu spielen und das sogar manchmal gleichzeitig. Daran können wir einen weiteren Aspekt der „Unteilbarkeit“ unseres Individualitäts-Begriff festhalten. Das wir nämlich alle verschiedene Rollen spielen - also quantitativ und qualitativ verschiedene Identitäten haben. Wobei wir unsere Individualität nicht quantitativ in Zahlen richtig ausdrücken könnten. Zumal viele Identitäten sich miteinander vermischen und die Grenzen dabei oftmals gar nicht eindeutig abzustecken sind. Außerdem können wir aufgrund unserer endlichen, begrenzten Zeitlichkeit gar nicht alle unsere Identifikationen oder Rollen im Leben überdenken. Der Aspekt der „Unteilbarkeit“ schwingt also immer noch in der Essenz unseres Individualitäts-Begriffs mit. Allerdings hat sich währenddessen unsere Perspektive auf unser Selbstverständnis in der Welt gewandelt. Vergegenwärtigen wir uns nochmal den Lauf unserer Menschheitsgeschichte oder die Entwicklung unseres philosophischen Denkens. Und mit „philosophischen Denken“ meine ich, wie wir uns die Welt erschließen oder welche Strategien wir verwenden, um uns das Wesen der Welt zu erklären oder noch anders ausgedrückt, von welcher Perspektive - also von welchem Standpunkt - aus wir versuchen uns die Welt und was sie im Innersten zusammen hält zu ergründen.

Während der Antike bis weit ins Mittelalter subsumieren wir unser Selbstverständnis zur Welt also unter den Titel „Erkenne die Welt“. Mit der Renaissance und der Aufklärung erinnern wir uns an ein Leitmotiv der Antike, das am Eingang zum Orakel von Delphi stand: „Erkenne dich selbst“. Insbesondere Sokrates (499 v.Chr.-399 v.Chr.) geht als Vorreiter dieser Grundhaltung in unsere Geschichte ein. Denn darunter verstehen wir vor allem die Aufforderung zur Selbsterkenntnis, zur Reflexion über die eigene Natur, die eigenen Motive sowie Handlungen, aber auch zur Suche nach einem Verständnis von sich selbst. Dies erinnert natürlich wieder an die bereits erwähnten Sätze des Heraklit zur Selbstnachforschung. Während der Renaissance werden die Bedürfnisse der Selbsterkenntnis wieder wach und mit der kopernikanischen Wende steht nicht mehr die Sonne im Zentrum unseres Kosmos, sondern die Erde. Spätestens mit der Aufklärung steht also nicht mehr die Erkenntnis selbst oder das Objekt als Erkenntnisweg im Zentrum unserer Welterschließung, sondern wir - das Subjekt - steht im Mittelpunkt, das sich die Welt erschließt. Aus dieser Haltung heraus oder aus diesem Selbstverständnis heraus werden wir immer spezifischer was unsere Individualität angeht. Wenn es im Deutschen Idealismus beispielsweise darum geht das Ich als Wir und das Wir als Ich zu verstehen und uns damit erschließen, wie unser Denken überhaupt funktioniert, geht es alsbald spätestens mit Kierkegaard sowie Nietzsche bis zur Bewegung des Existentialismus und der philosophischen Erkenntnismethode der Phänomenologie mehr zur Aufforderung aktiv zu sein und selbst den eigenen Lebensentwurf zu gestalten. Wir begreifen uns immer mehr als Lebensgestalter*innen und glauben immer weniger an eine göttliche Bestimmung. Daher subsumieren sich unsere philosophischen Erkenntnisse mehr unter einer Mantra-ähnlichen Parole „Sei du selbst“ bis hin zu einer Geisteshaltung, die heißt „Mach´ die Welt“.

Letztlich geht es also wieder um die Welt, wie in der ersten Parole, aber weniger darum sie zu erkennen, sondern sie zu gestalten. Zudem sehen wir anhand unserer kleinen Rückschau, dass es bei unserem Individualitäts-Begriff geschichtlich immer um die Beziehung oder das Verhältnis von Ich und Welt geht sowie um den Ausdruck darüber in Form von Handeln und Sprechen. „Erkennen“, „etwas zu sein“ oder „zu machen“ geht immer einher mit einer Handlung. Hieran fragt sich, warum das „Sprechen“ als besondere Tätigkeit neben der Handlung in Wörterbüchern zum Begriff „Individualität“ aufgeführt wird. Im Grunde beschreiben Handlungen und Sprechakte nur, wie sich einer oder eine bewegt und zwar äußerlich. Die innere Seite, das, was uns bewegt zur Handlung und zum Sprechen haben wir damit noch gar nicht berührt. Und dabei ist das doch genau dasjenige, was unsere Individualität eigentlich auszeichnet oder etwa nicht?

Wenn beispielsweise Iser von einer prinzipiellen Unverfügbarkeit der Individualität spricht und nicht mehr, wie früher noch Montaigne (1533 - 1592, Ende der Renaissance mit dem Wahlspruch „Erkenne dich selbst“) beim Individualismus von einer Selbstentdeckung, bei der wir auf der Suche nach der Originalität jedes einzelnen in seinen Ausdrucksmöglichkeiten sind, dann müssten wir ja auf dem Weg in die Innenschau sein, nicht wahr? Im Grunde prophezeit uns doch schon Montaigne den Wahlspruch des „Sei du selbst“. Und wie könnte dieser Wahlspruch eigentlich ohne den Schritt der Innenschau funktionieren? Ebenso ist die Suche nach der Originalität doch nicht, das wir nur im Außen oder Innen vollziehen. Letztendlich fragt sich, wie können wir denn allen Ernstes unsere Welt machen, wenn wir unseren Blick nur eingleisig schwenken? Woher kommt denn je unser Begriff der Individualität?

Klar, wir wälzen unsere Geschichtsbücher und finden Antworten über Antworten. Hannah Arendt (1906-1975) beispielsweise gibt uns hübsche Antworten. Zusammengefasst sind wir nach ihr Lebensgeschichten, die keinen Autoren haben. Unsere Individualität habe nämlich eine narrative Struktur, die sich durch ein plurales Zusammenspiel - im Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten - vollzieht. Mit Arendt lohnt es sich also zu fragen, woher unser Begriff der Individualität kommt.

Aber eben nicht nur vom Standpunkt einer aristotelischen Allgemeinheit heraus, sondern aus der Perspektive des Unteilbaren - des Individuum - heraus. Ich frage also, woher kommt mein Begriff über meine Individualität? Und ich frage dich, woher kommt dein Begriff über deine Individualität?


In diesem Sinne hoffe ich darauf, dass unser Selbstverständnis sich dem Werden von Welt und Ich mehr hingibt und wir daraus eventuell ein neues Mantra als Wahlspruch gestalten (Mantra: „man“ heißt „Geist/Verstand“ und „tra“ bezeichnet „Werkzeug für“). Und gleichzeitig dabei die Offenheit bzw. die Kategorie der Möglichkeit berücksichtigen. Ich hoffe, dass wir unsere Einstellung auf unseren „Dämon“ (Geist oder Seele) perspektivisch mehr zu einem Was uns bewegt richten und dabei weniger bewerten, sondern mehr unsere Aufmerksamkeit auf unser Wahrnehmen und Beobachten richten.

 
 
 

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