Der Weg, den die Gelassenheit geht
- Anna-Lena

- 30. Nov.
- 13 Min. Lesezeit

Der Weg, den die Gelassenheit geht
„Das Wort ist der Schatten der Tat“
(Demokrit).
Auf Wunsch bereite ich eine philosophische Veranstaltung über Gelassenheit vor. Erstaunlicherweise finde ich in philosophischen Wörterbüchern keinen Eintrag zur „Gelassenheit“. Dabei hatte ich angenommen, dass ich dazu etliche und umfangreiche Einträge finden werde. Schließlich kenne ich niemanden, der oder die sich nicht nach mehr Gelassenheit sehnt. Gelassenheit - so scheint mir - ist ein gesellschaftlich-allgemein-anerkanntes, erstrebenswertes Gut. So intendierte der Wunsch, einer philosophischen Veranstaltung über Gelassenheit, eben genau aus der Beobachtung, dass unsere Welt sich nach mehr Gelassenheit sehne. Das impliziert, dass Gelassenheit etwas ist, worum wir uns bemühen und zumindest nichts ist, dass wir vehement ablehnen.
Im Folgenden werde ich nicht auf alle Gründe eingehen können, warum unsere Welt sich nach mehr Gelassenheit sehnt. Im Einzelnen begründet sich die Sehnsucht nach mehr Gelassenheit individuell. Daher möchte ich darlegen, das es sogar notwendig ist sich über den eigenen Grund der Sehnsucht nach mehr Gelassenheit klar zu werden. Das nämlich letztendlich auch nur den Weg zur Gelassenheit gehen kann.
Das heißt also auch, dass ich doch noch einen philosophischen Zugang zur Gelassenheit finden konnte. Da ich annahm, dass wir uns schon immer irgendwie um Formen der Gelassenheit bemühten, suchte ich nach ähnlichen Bezeichnungen in philosophischen Wörterbüchern der altgriechischen Begriffe. Dort stolpere ich zunächst über den, durch (fälschlicherweise) Aristoteles bekannt gewordenen, Begriff der Ataraxia. Im Deutschen übersetzen wir es zuerst mit „Gemütsruhe“ und dann mit „Unerschüttlicherkeit, „Leidenschaftslosigkeit“ und Seelenruhe“. Aristoteles geht es hierbei aber vor allem um den Weg der Eudaimonia (gr.: „eu“ = gut bzw. entsprechend und „daimonia“ = Dämon bzw. Geist oder Seele). Genau genommen spricht er also gar nicht von der Ataraxia. Wenngleich er aber in der Seelenruhe das höchste Ziel allen Handelns sieht und zwar für die Eudaimonia. Was ist also das entsprechende Handeln gemäß unseres Dämons bzw. Geistes oder Seele? Aristoteles meint, wenn wir zwischen den Extremen die goldene Mitte wählen, dann finde unser Dämon - unser Geist oder unsere Seele - die entsprechende Ruhe. Das bedeutet beispielsweise, wenn wir zur Feigheit neigen, dann sollen wir nicht zum Übermut greifen und andersherum, wenn wir zum Übermut tendieren, dann sollten wir nicht feige werden. In der goldenen Mitte bzw. in der Entsprechung von Feigheit und Übermut liege nämlich der Mut. Im weiteren Verlauf werden wir überprüfen, ob diese Strategie immer unmittelbar zu einer nachhaltigen Gelassenheit führt. Allenfalls leuchtet rein intuitiv schon ein, dass die aristotelische goldene Mitte zumindest als Faustregel zur Orientierung in der Reflexion mit Sicherheit als inspirierende Unterstützung dienen kann.
Während des Hellenismus greift vorzüglich der Stoizismus diese Art der aristotelischen Ataraxia wieder auf und betont im besonderen Maße die Leidenschaftslosigkeit; im Sinne einer Affektlosigkeit. Sie lehrt einen inneren Gleichmut gegenüber Schicksalsschlägen und setzt auf eine bestimmte, mentale Einstellung, die zur Apathie führen soll. Es geht dabei um eine verinnerlichte und manifestierte Haltung, die zur Freiheit von physischen Schmerzen und Begierden führen soll. Eine weitverbreitete, stoische Leitidee, die der Theologe Reinhold Niebuhr zu einem Gebet zusammenfasst, kommt auch einer allgemein-bekannten Assoziation über die Gelassenheit nahe:
„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“.
Das Schöne an sich bei einem Gebet ist die Tatsache, das ein Gebet nicht bloß um etwas bittet oder einen Wunsch ausspricht, sondern ein Gebet ist auch ein Ausdruck des Vertrauens und die Gebärde der Hingabe. Deshalb habe ich mich also bei diesem Satz für die Gebetsform entschieden. Gelassenheit geht nämlich immer damit einher etwas Größeres anzuerkennen als wir es im Einzelnen selbst sind. Damit meine ich nicht, dass die Gelassenheit nur „im Knien“ möglich ist. Vielmehr ist das Größere nichts, was von uns getrennt ist. Das Größere ist das, was uns alle unmittelbar verbindet. Und wir können dieses Größere aus Ehrfurcht oder Faszination „Gott“ oder „das Göttliche“ nennen oder nüchtern betrachten und es das „ontologische Urprinzip“ nennen. Bei der nüchternen Formulierung fällt die emotionale Motivation des Vertrauens und der Hingabe weg. Das ein Gebet aber unmittelbar impliziert. Hiermit möchte ich also unterstreichen, dass wir den Weg der Gelassenheit eben nur dann gehen, wenn wir uns emotional motiviert fühlen und das der Weg ein Maß an Vertrauen und Hingabe erfordert.
Des Weiteren ist das Schöne - im Sinne des Wahren - an diesem Gebet die Tatsache, dass es schwierig ist zu erkennen, was wir ändern und was wir nicht ändern können. Ein anderes Wahres ist, dass nicht bloß der Mut eine Triebfeder ist, damit wir etwas ändern, sondern der Mut ist überhaupt die einzige Kraft, die unsere Tat zur Gelassenheit bewegt. Im Folgenden werde ich also auf die Aspekte eingehen, die den Weg der Gelassenheit gehen: die Sehnsucht, das Vertrauen, die Hingabe, die Weisheit und der Mut.
Der Mut der Gelassenheit
Im Grunde geht das zitierte stoische Gebet der Gelassenheit auf Demokrit (ca. *460 v.Chr.) zurück, weil Demokrit als erster die Euthymia, Symmetria und Harmonia als Wesen der Eudaimonia anführt. Gehen wir der Reihe nach und starten mit Euthymia.
Euthymia übersetzen wir mit „Heiterkeit“ oder auch „Seelenheiterkeit“. Wir verstehen darunter eine ausgeglichene Stimmung, das wir uns wohl ebenso unter „Gelassenheit“ vorstellen. Die Vorsilbe „eu“ bedeutet eigentlich gut, aber während des altgriechischen Sprachraumes denken wir „gut“ noch nicht als das Gegenteil von „falsch“, „schlecht“ oder „böse“. Vielmehr verstehen wir darunter „entsprechend“ oder auch „gemäß“. Der zweite Teil des Begriffs „Euthymia“ kommt von dem Wort „Thymós“ und heißt „Mut“ oder auch „Zorn“. Darunter verstehen wir während des altgriechischen Sprachraumes schlechtweg die Lebenskraft. So können wir Euthymia also übersetzen mit „gemäß oder entsprechend unserer Lebenskraft“ oder unserem Mut bzw. Zorn. Die Vorstellung, dass der Zorn oder der Mut unsere Lebenskraft umfasst, geht (wahrscheinlich) von Homer (ca. 850 v.Chr.) aus: Zuerst beschreiben sie verschiedene Ausformungen des bewussten bzw. seelischen Lebens, wie beispielsweise das Verlangen zu Handeln. Es bedarf dazu nämlich etwas Kampfesmut und dafür eben auch ein gewisses Potential an Zornkraft. Als zweites sei Thymós der Sitz unserer Gefühle und Emotionen, die ja überhaupt notwendig sind, damit wir uns bewegt fühlen zum Handeln. Das die aktuelle Emotionsforschung bestätigt, dass jede menschliche Handlung durch Emotionen motiviert sind. D.h. aber nicht, dass die Emotionen der einzige Grund sind für Handlungen, sondern das sie notwendig und ebenso beteiligt sind, wie beispielsweise vorangehende rationale Überlegungen an der Absicht von Handlungen beteiligt sind. Der Thymós wird im Brustbereich und manchmal auch im Herzen lokalisiert. Heraklit (ca. 520 v.Chr.), also ein Vorreiter des Demokrit, schreibt deswegen auch, dass es schwierig sei gegen den eigenen Thymós zu kämpfen. Der Thymós kaufe nämlich die Seele. Er beeinflusst sie und deshalb müsse der Thymós erkannt werden. Letztendlich um sich „besonnen zu besinnen“. Andernfalls kann unser Thymós umschlagen in Hybris, das wir übersetzen mit „Übermut“ oder auch „Hochmut“. Interessanterweise sind der Thymós und die Hybris nicht nur verschieden, sondern auch Getrennte, weil in ihnen keine begriffliche Verwandtschaft liegt. Wir erinnern uns an den Anfang über die aristotelische goldene Mitte über die Extreme: Mut lag in der goldenen Mitte, wenn er sich sozusagen extrovertiert, wird er zur Hybris des Übermutes oder Hochmutes und wenn er sich introvertiert, wird zur Feigheit. Aber wie erkennen wir nun unseren Thymós?
Nun wir müssen selbstredend wissen, wie der Thymós beschaffen ist. Hierzu werden wir uns den dritten Begriff des Demokrit anschauen: Die Harmonia. Und wir müssen wissen durch was wir den Zugang zum Thymós finden. Ernst Bloch, Walter Benjamin, Max Horkheimer und Theodor Adorno prägen dazu den Begriff des sich „Eingedenken“. Damit knüpfen sie an die heraklitische Besonnenheit, die eben schon kurz als „sich besonnen zu besinnen“ genannt wurde. Im Eingedenken und der Besonnenheit liegen die Momente der Hingabe und die der Weisheit. Damit schauen wir uns also zwei weitere Aspekte aus dem Gebet nach Demokrit an über den Weg, den die Gelassenheit geht:
Die Weisheit und Hingabe der Gelassenheit
Zunächst, sagten wir, schauen wir uns die Beschaffenheit des Thymós an bzw. seine Harmonia. Denn unter der Harmonia verhandeln wir während des altgriechischen Sprachraumes die Ordnungen des Kosmos und der Musen. Heraklit, der den Logos (die Vernunft) als das Urprinzip allen Seins - also des Kosmos und der Musen - begründet, legt dar, wie die Harmonia beschaffen ist und damit macht die Beschaffenheit der Harmonia also das Größere aus, wovon wir alle Teil sind. Ihre Beschaffenheit ist also das sogenannte „Göttliche“ oder nüchtern: das ontologische Urprinzip (Ontologie = Lehre des Sein und der Seienden). Heraklits Auffassung über die Beschaffenheit der Harmonia entspricht auch unserem neuzeitlichen Begriff, weshalb ich ihn also folgend zitiere:
„Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie“ (B8).
Die Harmonia liegt also weder auf der einen noch auf der anderen Seite, sondern in der Symmetria. En concreto heißt das, dass die Harmonie beispielsweise nicht die Abwesenheit von Schmerz oder Anspannung ist, sondern das Austragen des Widerspruchs und zwar die Balance zwischen Schmerz und Freud oder Anspannung und Entspannung. Wir können beim letzteren Beispiel ganz leicht an uns selbst nachvollziehen, dass eine absolute An- oder Entspannung rein physisch schon gar nicht möglich für uns wäre. Selbst wenn wir beispielsweise unsere Glieder in einer Liegeposition entspannen, dann bleiben nicht nur Bereiche währenddessen angespannt, sondern wir werden uns auch schon nach wenigen Minuten wieder anders hinlegen. Eine reine Entspannung entspricht eben nicht unserer Harmonia - der Ordnung unseres je eigenen Kosmos. Während des Heraklit wissen wir noch nicht das unser vegetatives Nervensystems sich aus der Einheit von Gegenspielern aufbaut - der sogenannte Parasympathikus und Sympathikus. So sorgt der Parasympathikus für Erholung innerhalb unseres Stoffwechsels. Während der Sympathikus dafür sorgt die Leistungen unseres Organismus anzuregen. Unser vegetatives Nervensystem kennt also weder nur Phasen im Sympathikus noch bloß im Parasympathikus, sondern nur ihr entsprechendes Zusammenspiel oder ihr Spannungsverhältnis.
Heraklit erkennt dies ohne Kenntnisse über unser vegetatives Nervensystem. Er entnimmt die Struktur von Harmonia anhand seinen Beobachtungen. Deshalb soll ein weiterer Satz von ihm zitiert werden, der uns zudem kein Unbekannter sein wird. Er veranschaulicht nicht bloß die Bedeutung von Harmonia, sondern auch den Sinn der Harmonia, womit wir zum Zugang über unseren Thymós kommen:
„Krankheit macht Gesundheit süß und gut, Hunger die Sattheit, Mühe die Ruhe“ (B111)
Vereinfacht und modern gesprochen können wir den Satz folgendermaßen weiterspinnen: „Die Krankheit macht die Gesundheit erst angenehm“. Wir finden wieder eine in Einheit wirkende Gegensatzstruktur vor - also die Struktur der Harmonia -, denn der Satz sagt: Dass wir das Eine nicht ohne sein anderes fühlen bzw. wahrnehmen können im Sinne des Erkennens. Hegel (*1770) greift diesen Gedanken in seiner Wissenschaft der Logik wieder auf, wo er nämlich die allgemeinen Prinzipien der Logik unseres Denkens bzw. Erkennens oder das Prinzip des Logos bzw. die Harmonia des Logos darlegt. Zusammenfassend schreibt er darüber Folgendes:
Damit wir ein Etwas als Etwas identifizieren können, brauchen wir ein Nicht-identisches, wovon wir es abgrenzen können. Damit gebärt sich der Unterschied aus dem Etwas, das wir identifizieren wollen und dem Nicht-identischen, wovon wir es abgrenzen. Dabei zerfällt er, der Unterschied, in die Verschiedenheit. Daraus ergibt sich dann also das Gleiche und Ungleiche. Denn das, was identifiziert werden soll ist mit sich selbst identisch; sprich mit sich selbst gleich und das, wovon das zu Identifizierende abgegrenzt werden soll, das Nicht-Identische, ist also das Ungleiche. Nun liegt aber die Gleichheit in der Ungleichheit und die Ungleichheit in der Gleichheit. Denn damit das Ungleiche das Ungleiche sein kann, muss es sich selbst bejahen, womit es seinem Wesen widerspricht. Denn schließlich verneint das Ungleiche. Damit zerfällt es an sich selbst und so finden wir in unseren Grund zurück - zu dem Etwas, das wir identifizieren wollen. Bei der Gleichheit verhält es sich nun ebenso, aber in umgekehrter Weise. Denn damit die Gleichheit die Gleichheit sein kann, muss es Anderes verneinen, womit sie sich selbst widerspricht. Denn ihr Wesen ist es zu bejahen. Damit zerbricht also auch sie an sich selbst und fließt somit in unseren Grund zurück: Zu dem Etwas, das wir identifizieren wollen. Inwiefern hilft uns nun die hegelanische Logik des Denkens beim Erkennen unseres Thymós weiter?
Angenommen uns ärgert etwas und dieser Ärger erregt oder belebt unsere Hybris, dann müssen wir ihre innere Struktur erkennen, um besonnen - gemäß unseres Thymós - zu handeln und zu reden. Denn damit beleben wir unsere Euthymia - unsere ausgeglichene Stimmung und stellen uns ein in Gelassenheit. Hier kommt die heraklitische Besonnenheit ins Spiel. Schließlich setzt das Erkennen unseren Verstand voraus. Besonnenheit heißt im altgriechischen: „Sôphrosynê“. „Sôs“ übersetzen wir mit „heil“, „Gesundheit“, „unversehrt“, „sicher“ und „gewiss“. Und „phrên“, das andere Stammwort der Sôphrosynê, nennen wir „Verstand“, „Einsicht“, „Gemüt“ und „Wille“. Wenn wir die Wortpaare zusammen setzen, kommen wir unter dessen zu dem bekannten Wortpaar: Gesunder (Menschen-)Verstand oder der einsichtsvolle Wille. Mit Rückgriff auf die hegelanische Harmonia des Logos - also der Beschreibung wie unser verstandesgemäßes Erkennen sich bewegt, können wir systematisch das Verhalten und die Struktur unserer Hybris beobachten. „Beobachten“ meint lediglich etwas anzuschauen. Hierbei ist es enorm wichtig, dass wir unsere Bewertungen, die sich direkt im Anschluss unserer Beobachtungen äußern wollen, nicht nachgehen, d.h. sie nicht austragen oder befeuern. Ein „heiler oder unversehrter Verstand“ ist nämlich nüchtern von Emotionen, die nämlich ebenso - wie unsere Handlungen - unsere Bewertungen motivieren. Emotionen sind nämlich auf unsere Einbettung in der Welt gerichtet und repräsentieren uns, dem Subjekt, die Bedeutung, wie wir die Objekte in unserer Welt je bewerten, wie bspw. Furcht vor Spinnen, sodass wir entsprechend handeln. Diese Art der Emotionen grenzen sich eindeutig von unseren sogenannten körpereigenen Gefühlen, wie Hunger oder Durst, ab. Körpereigene Gefühle sind nämlich keine kognitiven mentalen Zustände, sondern Funktionen unseres Organismus. Emotionen hingegen sind kognitive mentale Zustände, weil sie - auf Grund ihres repräsentionalen Gehalt - beteiligt sind an der Erschließung unserer Welt. Deshalb geht es der besonnenen Besinnung gerade darum unsere Emotionen nicht noch weiter zu befeuern, sondern ihre Bedeutung zu erkennen, um unsere emotionale Sichtweise aus einer nüchternen Perspektive heraus zu betrachten.
Vergegenwärtigen wir uns dazu einmal Beispielhaft das klassische, emotionale Gefühl „Angst vor dem Tod“. Dann würde es hierbei darum gehen sich mit der Bedeutung „Tod“ auseinanderzusetzen. Dazu können wir die hegelanische Harmonia des Logos systematisch einsetzen. D.h. wir überlegen, was eigentlich an dem Tod das Identische ist und was wir selbst mit dem Tod identifizieren. Der andere Teil dieser Emotion ist „Angst vor (etwas)“. Bei der Angst können wir ebenso vorgehen, wie mit dem Tod. Bei der Angst ist es kein Geheimnis, dass sie in der Regel ein mentaler Zustand ist. Das bedeutet, dass wir uns Ängste durch Zweifel und Unsicherheit immer selbst machen. Ängsten existieren also nur in uns selbst. Selten sind es Ängste vor akuten Bedrohungen, wie beispielsweise im Wald von einem Bären oder einem Wildschwein überrascht zu werden. In der Regel geht es bei der Angst um irgendeine Form der existentiellen Bedrohung, die wir uns aber selbst machen und dadurch unsere Hybris anregen. Entweder reagieren wir feige und gehen unserer Angst vor dem Tod aus dem Weg oder wir reagieren mit Hochmut auf unsere Angst vor dem Tod, indem wir uns beispielsweise übermäßig wehren vor dem Tod oder dem Sterben. Weder das Sterben noch der Tod können wir aber aufhalten. Das Sterben ist ein lebenslanger Prozess und muss gelernt werden (eine Lehre des Michel de Montaigne *1533), denn wir richten unser Leben ja nicht in Vorbereitung auf den Tod vor, sondern kümmern uns vor allem um unser Überleben.
Ein anderes klassisches Beispiel für unsere emotionalen Gefühle, wo sich es sich schwer sagen lässt, ob sich dabei um unsere Hybris oder unseren Thymós handelt ist der Zorn. Schließlich bedürfen wir ein gewisses Potential an Zorn, weil sie unsere Lebenskraft ist. Allerdings ufert unsere Zorneskraft im Eifer des Gefechts meistens entweder in Jähzorn aus, sodass wir vielleicht rumschreien und sogar wild um uns mit Dingen werfen oder unsere Zorneskraft verwandelt sich in eine introvertierte Hybris und wird passiv aggressiv. Manche Psychologen*innen raten, auf Grund Ergebnissen der Emotionsforschung ausgehend von bspw. António Damásio (*1940), dass Emotionen schon nach 90 Sekunden abklingen, zu versuchen eine plötzlich aufsteigende Emotionen erst zu beobachten anstatt sie durch Gedanken zu verstärken. Die Gefahr, die hierbei aber entsteht, weshalb ich überhaupt darauf eingehe, ist diese, dass wir nach dem Gefühl des Abklingen uns nicht weiter mit dieser Emotionen auseinander setzen. Dadurch erhöht sich unser Stresspegel, sodass er chronisch wird. Es kommt zu Angstzuständen, Depressionen oder Burnout. Körperlich leiden wir an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie Bluthochdruck bis Herzinfarkt, Magen-Darm-Beschwerden und allgemein ein geschwächtes Immunsystem.
Die 90 Sekunden Regel zu beachten, wenn Emotionen, wie bspw. Jähzorn, in uns aufsteigt, mag hilfreich sein und uns vor unangenehmen Konsequenzen bewahren. Anschließend sollte aber, um keinen psychischen Schaden davon zu nehmen, der Weg der Gelassenheit gegangen werden. Und zwar, indem wir uns selbst Eingedenken, wie Bloch, Benjamin, Horkheimer und Adorno sagen. Durch das Eingedenken in Form einer Selbstbeobachtung und einer Innenschau finden wir den Raum unserer Harmonia,- die in Einheit wirkende Gegensatzstruktur - unserem eigenen Widerspruch, nachzugehen. Denn damit wir überhaupt den „Baum“ des Lebens und des Erkennens von gut und böse schützen können vor der Hybris, müssen wir, so sagt Benjamin, bereit sein aus unserem „Paradies“ herauszutreten, um es beurteilen zu können. Es reicht also nicht einfach aus Askese zu betreiben, indem wir uns stoisch von unseren Leidenschaften sowie Begierden entsagen. Es bedeutet sogar sich der Hybris hinzugeben und zwar hinhorchend.
Denn in Unterdrückung schlägt die Hybris (immer noch) um sich und zwar blind. Erst wenn wir sie uns anschauen und erkennen, kann sie nicht mehr blind und taub in uns walten. Eine unerkannte Hybris bekämpft unseren Thymós - unsere Lebenskraft. Wenn wir unsere Hybris ignorieren, sabotieren wir uns selbst. Und wir werden ein schweres Leben davon tragen. Wenn wir uns aber einlassen auf die Selbstbeobachtung, werden wir unserem Willen Einsicht gewähren in das Wesen der Dinge. Das bedeutet, wir zeigen unserem Willen, wie wir selbst und alles anderes wesentlich beschaffen ist. Daher ist also die Weisheit ein Moment auf dem Weg der Gelassenheit die Weisheit:
„Verständiges Denken ist höchste Vollkommenheit,
und die Weisheit ist,
Wahres zu sagen und zu tun nach dem Wesen der Dinge,
auf sie hinhorchend“
(Heraklit, B112)
Ein „Verständiges“ impliziert immer ein Subjekt-Objekt-Verhältnis und zwar, das sie sich miteinander verständigen. Das Verständigen ist nämlich kein eingleisiges Subjekt-Objekt-Verhältnis. Es geht hierbei darum sich dem Objekt ebenso einzugedenken wie dem Subjekt, wie wir es oben schon anhand des Beispiels mit der „Angst vor dem Tod“ vergegenwärtigt hatten. Denn nur das Verständige kann „Wahres sagen und tun“. Dazu brauchen wir das Eingedenken, weil wir nämlich erstmal beobachten müssen, was überhaupt das „Wesen der Dinge“ ist, um nach ihm entsprechend reden und handeln zu können.Das impliziert, dass wir hinhorchen müssen, denn das Wesen der Dinge erscheint flüchtig. Eine Wut beruhigt sich schon nach 90 Sekunden, aber eine Angst vor dem Tod bspw. flüchtet immer vor sich selbst. Deshalb müssen wir uns unserer Hybris hingeben und uns selbst horchen.
Vertrauen und Sehnsucht der Gelassenheit
Hiermit finden wir in unseren Grund zurück und das wäre nach Demokrit sowie Aristoteles: Die Eudaimonia; sprich die Glückseligkeit. Es bedarf nämlich notwendigerweise zunächst überhaupt, dass wir uns unserer Sehnsucht nach Gelassenheit bewusst werden. Ich behaupte, dass Sehnsucht nach Gelassenheit in uns allen immer rudimentär vorhanden ist. Schließlich bemühen wir uns um ein gelassenes oder „entspanntes“ Leben. Das, was uns daran oft unklar ist, ist unser persönlicher Grund, warum wir uns um ein gelassenes Leben bemühen. Manche von uns sehen darin das Ziel der Eudaimonia, wie Demokrit und Aristoteles. Andere sehnen sich aber eher nach Zufriedenheit, Anerkennung, Liebe oder Gerechtigkeit. Unsere Hybris zu entlarven erfolgt also auf mehreren Ebenen. Es geht nicht nur darum unserer Angst und unserem Zorn auf die Schliche zu kommen, sondern auch unserer Sehnsucht und das sind im Grunde unsere Emotionen. Ein Weg der Gelassenheit ist also ein Sich-selbst-nüchtern-werden, um zu erkennen, was unsere wahre Sehnsucht im Leben ist, um mit ihr dann auch gehen zu können. Wenn wir nicht wissen, was der Inhalt unserer Sehnsucht ist, dann handeln wir bloß der Form nach: inhaltlos, blind und taub.
Das, was uns dabei hilft ist unser Vertrauen. Und zwar das Vertrauen, dass der Thymós in uns allen steckt. Niemand von uns hat mehr oder weniger Thymós, sondern wir haben manchmal mehr oder manchmal weniger Hybris. Und die ist ebenso durchzogen von dem „Göttlichen“ oder dem ontologischen Urprinzip der Harmonia, wie der Thymós und alles andere. Unsere Hybris ist also nicht, wofür uns schämen bräuchten und nichts worauf wir besonders stolz sein könnten. Denn wir sind uns in unserer Ungleichheit und Individualität letztendlich alle gleich. Es kann uns auf unserem Weg der Gelassenheit also helfen, wenn uns dieses Größere vor Augen führen und lernen dem zu vertrauen, uns selbst, den anderen und der Welt.



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