Was heißt Liebe?
- sophiasblog77
- 10. Mai
- 17 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 12. Juni
„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“
(Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Vorrede).
Diese Frage stellt Nietzsche in seinem Zarathustra als dieser das erste Mal versuchte dem Volk die Lehre des Übermenschen zu überbringen, ihre Ohren aber blind und ihre Augen aber taub waren, sodass sie seine Worte nicht vernehmen konnten. Das mit den blinden Ohren und tauben Augen ist kein Tippfehler weder von mir noch von Nietzsche. Denn die Umdrehung der blinden Ohren und tauben Augen verweist darauf, dass die Menschen, zu denen Zarathustra spricht, das Lieben verlernt haben. Schließlich wissen wir in der Liebe, was es bedeutet, wenn unsere Ohren plötzlich sehen und Augen plötzlich hören. Vielleicht beschreibt das die Kunst der Liebe, dass sie über das Sinnliche hinaus versteht. Liebe kann man eben nicht erklären, aber wir verstehen erst mit der Liebe die Welt.
Genau genommen stellt Nietzsche deshalb auch eigentlich vier Fragen. Allerdings erweitern sie nur den Horizont seiner ersten Frage. Wir könnten nämlich auch auf die Frage, was ist Liebe, antworten: Liebe ist Schöpfung, Sehnsucht und Stern. Und hierbei fragt sich natürlich in welcher Hinsicht Liebe Schöpfung, Sehnsucht und Stern ist. Deshalb werden wir entsprechend diesen Lichtes die Liebe folgend betrachten.
Zunächst können wir uns allgemein darauf einigen, dass bei der Liebe wohl niemand behaupten würde, dass sie verhältnislos und autonom nur für sich existiert. Wenngleich wir aus psychologischer Sicht den Anspruch verfolgen, dass wir uns erst selbst lieben müssen, damit wir andere nicht als Ergänzung der eigenen Unzulänglichkeiten missbrauchen. Aber auch dieser Anspruch setzt ein Verhältnis voraus und zwar ein Selbstverhältnis. Die Liebe gewährt uns also unmittelbar Zugang zu unseren Verhältnissen oder unserem Dasein in der Welt. In ihr erfahren wir, dass nichts von uns getrennt existiert und wir selbst auch nicht isoliert existieren. Wenngleich wir selbstredend individuell lieben mögen, dann entsteht unsere Identität erst im Kontrast bzw. mit dem nicht-Identischen. Also von dem wir uns unterscheiden. Und das erfahren wir spätestens mit unserem ersten Schrei, wenn wir das Licht der Welt erblicken. Unser Ich-Bewusstsein entwickele sich zwar erst ab unserem dritten Lebensjahr, wie beispielsweise Peter Singer anführt als Prämisse für unseren Personen-Begriff. Aber es bleibt unbestritten, dass unsere Identität, so wie das Leuchten eines Sternes in einer dunklen Nacht, sich erst durch Unterschiede erkennt sowie anreichert. Dabei bleibt es irrelevant, wann wir unser Ich-Bewusstsein entwickeln. Denn es ist eine Tatsache, dass wir unser Verhältnis zur Welt spätestens mit unserer Geburt, ob bewusst oder unbewusst, einnehmen. Letztendlich kommen manche Kinder mit dem Schicksal zur Welt, dass sie von ihren Eltern beispielsweise abgestoßen werden und keine Liebe erfahren. Aber in der Abwesenheit von Liebe, erfahren wir zumindest die Negation der Liebe. Frühkindliche Erfahrungen werden eben nicht erst durch unser Ich-Bewusstsein entwickelt. Sondern bereits im Mutterleib bilden wir unsere Gedächtnisse vor. Der Gemeinplatz unserer Erfahrungswirklichkeit nehmt also schon mit unserer Empfängnis erhebliche Einflüsse auf uns. Erleiden wir derartige Schicksale, ob in frühkindlichen Phasen oder später als Erwachsene, bleibt uns zumindest ein vorbewusstes Verhältnis zur Liebe. Das "Vorbewusste" ist ein geprägter Begriff von Ernst Bloch, den er zu Freuds "Vorbewussten" abgrenzt (vorzüglich in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung). Denn Bloch begründet, dass das Vorbwusste unser utopischer Goldgrund des Mangels sei, dass wir uns selbst nicht haben können, aber das Novum - das Zukünftige - antizipiere und deshalb bestünde stets Hoffnung. Sobald wir also einen Begriff von Nicht-Liebe erfahren, haben wir zugleich einen vorbewussten Begriff über die nicht negierte Liebe, weil wir eben die Identität von etwas - ob unsere eigene Identität oder die der Liebe oder anderen Entitäten - durch ihre Nicht-Identität erkennen.
Wenn wir also allgemein über die Liebe festhalten, dass sie schlechthin ein Verhältniswort ist, weil sie immer eine Art von Beziehung oder Verbindung impliziert, dann ist das nichts, was wir erst lernen müssen, sondern unmittelbar oder vorbewusst erfahren. Dabei kann es sich also um die Beziehung zu uns selbst, den anderen oder der Welt handeln. Liebe ist also nichts Einzelnes, sondern verweist immer auf ein Verhältnis. Allerdings gewinnen wir der Liebe natürlich viel mehr ab. In der Regel beschreiben wir sie nicht nur als unser Verhältnis zur Welt. Wir gehen etliche Beziehungen oder Verhältnisse ein, bei denen wir beispielsweise nicht unbedingt davon sprechen würden, dass wir sie lieben; wie Nachbarschaftsbeziehungen oder Arbeitsverhältnisse. Wahrscheinlich würde uns das etwas „zu weit“ gehen bei unserem Verhältnis zum Supermarkt auch von Liebe zu sprechen. Auf der anderen Seite gibt es mitunter natürlich Dinge und nicht nur Personen, die wir lieben, wie beispielsweise unser Lieblingsessen, unser Lieblingssport oder Lieblingspulli. Das Wesen der Liebe ist im Allgemeinen also nicht an Personen notwendigerweise geknüpft, sondern sie beschreibt überhaupt unser individuelles Verhältnis zur Welt. Denn es gibt unterschiedliche Qualitäten von Verhältnissen, bei denen wir dann individuell entscheiden, ob wir es Liebe nennen oder eben nicht. Deshalb gestalten sich unsere Verhältnisse von Liebe zu Liebe unterschiedlich und nicht von Person zu Dingen oder Beschäftigungen.
Schließlich lachen und weinen wir auch aus Liebe. Ja, mitunter lernen wir sogar das Hassen erst durch sie. So kennen wir wahrscheinlich alle das Wort „Hass-Liebe“, womit wir eigentlich toxische Beziehungen beschreiben. Aber es gibt auch eine andere Form des Hasses, die sich durch die Liebe entwickelt. Beispielsweise in der Freundschaft, bei der wir durchaus von Liebe sprechen, müssen wir nach Nietzsche auch Feind sein wollen und zwar für unseren Freund. Denn erst, wenn wir für unseren Freund oder unsere Freundin in den Krieg ziehen würden, seien wir der Freundschaft fähig. Das klingt eventuell etwas drastisch. Aber wenn wir uns vergegenwärtigen, wo wir beispielsweise unsere Liebsten verteidigt haben, für sie Partei ergriffen haben oder mit ihnen zusammen für eine Sache gekämpft haben, können wir der sogenannten Hass-Liebe vielleicht sogar etwas abgewinnen. Wir mögen also zwar nicht bei allen Verhältnissen von Liebe sprechen. Aber selbst die Negation von Liebe fällt immer noch unter den Oberbegriff „Liebe“.
Letztendlich bestätigt das, dass wir in der Liebe die Vereinigung der höchsten Widersprüche erleben. Das entspricht auch dem, was wir uns in der Regel unter „Liebe“ vorstellen: Eine numerische Zweiheit, die aber eine Einheit oder eine Form der Verschmelzung eingeht. Für gewöhnlich haben wir wohl das Bild von Mann und Frau dazu im Kopf. Die Ungleichheit unserer Geschlechter wird in der Liebe bestenfalls überwunden, weshalb wir auch von einer Einheit der Widersprüche sprechen. Wir können zwar nicht unsere physiologische Beschaffenheit auflösen und alles an uns gleich machen. Das wir ja auch im Grunde gar nicht anstreben. Vielmehr kämpfen wir aktuell um eine Gleichberechtigung, die aber vor allem unsere Individualität bewahrt. Deshalb sprechen wir ja auch nicht ausschließlich bei der Liebe von einer Einheit, sondern betonen mit dem „Widerspruch“ noch unsere jeweilige Identität. Wenn wir also bei der Liebe von einem individuellen Verhältnis der Einheit von Widersprüchen sprechen, dann schließen wir den Widerspruch bzw. die Ungleichheit nicht aus. Vielmehr tragen wir den Widerspruch aus, weil es ein stetiges An-Erkennen der Gleichheit in der Ungleichheit oder andersherum in der Ungleichheit die Gleichheit ist. Hegel schreibt in seiner Wissenschaft der Logik dazu, dass die Gleichheit sich selbst bejaht, um die Gleichheit zu sein und dadurch gleichzeitig die Ungleichheit ausschließen muss. Dadurch aber, dass sie etwas ausschließt, widerspricht sie sich selbst, weil sie durch ihre absolute Bejahung zwangsläufig die Ungleichheit verneint und dann nicht mehr absolut die Gleichheit ist. Ebenso zerbricht auch die Ungleichheit an sich selbst, weil sie sich selbst bejaht. Sie kann aber nicht mit sich gleich sein, weil sie in ihrer Absolutheit nur ungleich ist. Und damit bejaht sie also die Gleichheit, und zerbricht an sich selbst. Das bedeutet also, dass die Einheit von Widersprüchen meint, dass das eine nicht ohne das andere existiert, das beispielsweise zu der Redewendung passt: Jede Medaille hat zwei Seiten. Bis hier können wir also festhalten, dass das individuelle Verhältnis der Liebe die Einheit von Widersprüchen begreift.
Liebe ist also ein individuelles Verhältnis
der
Einheit von Widersprüchen.
Wenngleich wir mit „begreifen“ nicht unbedingt ein sprachliches Begreifen in Form von Wörtern, sondern ein vor-sprachliches meinen. Schließlich können beispielsweise auch Kinder, die sich noch rudimentär verbal ausdrücken, schon lieben. Allerdings ist das „schon“ eben nicht zeitlich, sondern ontologisch gemeint, d.h. unserem Sein nach und nicht unserer Endlichkeit nach. Denn Liebe ist keine reine Vermittlung, wie das Laufen, das wir lernen. Ebenso schreibt die Liebe auch kein Datum, sondern ist immer en actu präsent. Wir können uns zwar an vergangene Liebes-Erfahrungen erinnern oder von Zukünftigen träumen, aber wir können sie nicht ablegen. Sie begleitet uns permanent. Auch wenn wir uns ungeliebt oder als nicht liebenswert empfinden. Denn dann greift immer noch, dass sich selbst die nicht-Liebe unter den Oberbegriff "Liebe" subsumiert. Selbstredend reichern wir unseren persönlichen Begriff oder Horizont über das Lieben permanent an und gewinnen auch immer neue Aspekte sowie Perspektiven darüber. So sprechen wir auch davon einen Menschen oder eine Sache lieben gelernt zu haben. Das setzt schlechterdings aber ein rudimentäres Verständnis voraus, das die Liebe also unmittelbar mitbringt. Wir finden somit, dass wir Liebe zwar unvermittelt erfahren, aber unseren Begriff von Liebe nicht nur unvermittelt erweitern.
Es fällt uns beispielsweise viel leichter Mitgefühl zu empfinden, wenn wir eine ähnliche Erfahrung dazu gemacht haben, weil wir dadurch nämlich erst verstehen. Solange wir uns Dinge nur vorstellen und keine Erfahrung darüber haben, haben wir bloß einen intellektuellen Nachvollzug darüber. Verstehen geht nämlich einher mit unserem Erleben und wir erleben das, was wir erfahren. Und Liebe ist vor allem eine Angelegenheit unserer Erfahrungswirklichkeit. Wir können sie eben nicht aus Büchern lernen. Wir können zwar Vorstellungen über sie gewinnen durch beispielsweise diverse romantische Filme, aber in der Realität erleben wir die Liebe anders und zwar immer individuell. Das heißt, dass sie nichts ist, dass sich 1:1 wiederholen lässt. Wenngleich wir dauerhaft lieben. Liebe birgt also einen Doppelcharakter des unmittelbaren und mittelbaren. In ihren Kinderschuhen haben wir zunächst ein Verhältnis vorliegen, das wir unmittelbar und auch ungefragt eingehen mit unserer Geburt. Das Individuelle entwickelt sich dann erst noch und da können wir auch von Vermittlung sprechen. Hegel schreibt dazu:
„Liebe heißt überhaupt das Bewußtsein meiner Einheit mit einem anderen,
so daß ich für mich nicht isoliert bin,
sondern mein Selbstbewusstsein nur als Aufgebung meines Fürsichseins gewinne“
(Hegel in Grundlinien einer Philosophie des Rechts, §158 im Zusatz).
Letztendlich erfahren wir in der Liebe also unser Selbst. Hierbei ist zunächst unbedeutend, ob die andere Einheit von der Hegel spricht eine Person, eine Sache oder eine Beschäftigung ist. Wenngleich wir natürlich verschiedene Ebenen der Liebe einräumen, indem wir zwischen der Liebe zu unseren Eltern, PartnerInnen und Hobbys unterscheiden. Die Liebe ist also nicht bloß ein individuelles Verhältnis, sondern ein je individuelles Verhältnis. Damit wir aber überhaupt von Identität sprechen können, brauchen wir etwas, wovon sich unsere Identität abgrenzt, wie das Licht des Sternes erst durch die Dunkelheit der Nacht sichtbar wird. Und dies ist etwas, dass wir auf allen Ebenen der Liebe wiederfinden. Wenn das Licht und der Hintergrund des Sternes identisch miteinander wären, dann können wir ihn nicht erkennen. Liebe heißt also die Zugleichheit von Abgrenzung und Verbundenheit. Die Liebe beschreibt zwar eine Einheit von Widersprüchen, aber wir negieren dadurch nicht unsere eigene Identität, sondern erkennen und reichern sie dadurch erst an. Das impliziert aber nicht, dass wir uns deshalb nicht verändern. Vielmehr gibt die Liebe die Möglichkeit sich zu ändern, weil wir uns darin selbst erkennen. Sie ist nach Hegel also nichts, das uns zu etwas zwingt.
Zweitens impliziert die Einheit von Widersprüchen eine dynamische Struktur. Denn in dem Erkennen, dass die Gleichheit beispielsweise auch die Ungleichheit ist und andersherum, liegt nämlich die Permanenz einer Bewegung vor, weil wir es nicht mit einem statischen für immer festen Zustand zu tun haben, sondern mit einem Vorgang. Auf die Liebe bezogen heißt das, dass sie also dynamisch ist oder ein Prozess und keinen statischen Zustand beschreibt. Wie wir weiter oben schon festgestellt haben, dass die Liebe weder 1:1 wiederholt werden kann noch das wir sie ablegen könnten, wie beispielsweise unseren Mantel. Liebe beschreibt also keine Akzidenz, d.h. ihr dynamisches Wesen ist keine veränderbare Sache, wie die Farbe einer Wand, sondern ein substantielles Verhältnis. Das bedeutet, dass sie unser Wesen ausmacht und essentiell notwendig für uns ist. Die Liebe ist also eine Konstante in unserem Leben und wenngleich sie nicht statisch ist, sodenn gibt sie uns Stabilität.
Erinnern wir uns nochmal an Nietzsches Antworten auf die Liebe, das sie beispielsweise die Schöpfung oder Sehnsucht sei. Wenn wir von Schöpfung oder Sehnsucht sprechen, dann impliziert dies eben auch eine Bewegung. Bei der Sehnsucht ist beispielsweise eindeutig, dass sie auf die Zukunft gerichtet ist. Sehnsucht ist also ontologisch-zeitlich strukturiert und impliziert von daher, dass Sehnsucht nicht statisch beschaffen ist. Selbstredend können wir immer dergleichen Sehnsucht hinter her hängen, aber sie bleibt etwas, die sich in Richtung Zukunft bewegt. Wir gewinnen mit unter durch unsere Sehnsüchte Orientierung in der Welt, wie ein Stern, der uns in der Nacht den Weg leuchtet. Die Sehnsucht zieht oder zerrt nach etwas, das wir noch nicht haben oder sind, aber es uns wünschen. Sie sagt also etwas über uns selbst aus. Außerdem ist eine Sehnsucht kein Seifenblasen-Traum, der schnelllebig und sprunghaft ist. Vielmehr steckt in dem Begriff „Sehnsucht“ ein Aufbegehren und ein starkes Verlangen. Der Redner Aristophanes aus Platons Dialog „Symposium“, worin es um den Gott der begehrenden Liebe „Eros“ geht, erzählt dazu eine fabelhafte Geschichte:
„Einst war unsere Natur nicht die von jetzt, sondern eine andere. Denn zuerst gab es drei der menschlichen Geschlechter, nicht nur zwei wie jetzt, männlich und weiblich; es gab ein drittes dazu, das zu beiden gehörte. Sein Name lebt fort, indes es selbst verschwand. Es war das Mannweib, nach Aussehen und Namen an beiden teilnehmend, an Männlichen und Weiblichen […] wenn sie sich aufmachten, um schnell zu laufen, taten sie wie Akrobaten […] die Beine herumschwingen und Rad schlagen […] rollend sausten sie dahin […] das Männliche stammte ursprünglich von der Sonne, das Weibliche von der Erde, das Doppelgeschlecht vom Mond, da auch der Mond an beiden teilhat [an der Sonne und der Erde]. Rund waren sie […] Sie hatten gewaltige Kraft und wollten hoch hinaus, sie griffen die Götter an […] Da saßen Zeus und die anderen Götter zu Rate […] sie konnten sie ja nicht töten […] da hätten sie sich ja selbst um Ehre und Opfer der Menschen gebracht […] Endlich kam Zeus auf einen Gedanken: […] „ich habe ein Mittel, daß es weiter Menschen gibt, aber geschwächt werden sie von ihrem wüsten Wesen lassen. Ich schneide sie in der Mitte durch“ […] Da nun das ursprüngliche Wesen entzweigeschnitten war, ging jede Hälfte sehnsüchtig nach der ihren auf die Suche […] im Verlangen zusammenzuwachsen […] Seither ist die Liebe zueinander den Menschen eingepflanzt“
(Platon, Gastmahl).
Natürlich ist dies nur eine mythologische Erzählung, bei der wir meistens davon ausgehen, dass sie nicht den Tatsachen entspricht. Ihre Funktion liegt also nicht darin uns die Entstehung der Welt und der Menschen anhand von empirischen Daten zu erklären. Vielmehr wollen wir mit mythologischen Erzählungen unsere Erfahrungswirklichkeit wiederspiegeln, damit unser Erleben aktiviert wird und sich damit ein tieferes Verständnis einstellt. Und wir wollen gerade ein tieferes Verständnis darüber gewinnen, warum die Liebe auch Sehnsucht heißt. Laut Aristophanes geht es uns in der Liebe oder im Leben nach Erfüllung oder Ergänzung. Aber wir werden in der Liebe keine endgültige oder absolute Erfüllung finden. Auch nicht nach der Rede des Aristophanes. Denn bevor den Menschen, die Liebe eingepflanzt wurde, passierte noch etwas anderes. Die Götter entzweiten das sogenannte Mannweib ohne die Geschlechter. Sie konnten einander nur umarmen und das war ihnen aber zu wenig Verschmelzung, weshalb sie hungrig blieben und sich auch nicht mehr fortbewegten. Also erschufen die Götter das männliche und weibliche Geschlecht, sodass sie sich zumindest temporär verbinden konnten und „Seither ist die Liebe zueinander den Menschen eingepflanzt“. Die Erzählung versinnbildlicht also wie das Verhältnis Liebe und Sehnsucht gemeint ist. Es ist ein Aufbegehren in einer Sache, Beschäftigung oder Person, die aber immer nur temporär gestillt werden kann, wie beispielsweise unser Appetit oder Durst und oft schon im Verzehr nach mehr schreit. Das Wörtchen "in" spielt dabei eine zentrale Rolle, weil die Sehnsucht nichts ist, das von Außen in uns hinein kommt, sondern aus uns heraus kommt. Die Sehnsucht beschreibt die Liebe also nicht als die Abwesenheit von Schmerz, sondern die Auseinandersetzung mit Schmerz. Hier verdichtet sich noch mehr der Aspekt von Liebe als die Einheit von Widersprüchen. Denn eigentlich gehen wir Liebesbeziehungen ja nicht ein, weil wir uns dort besonders viel Schmerz erhoffen. Vielmehr glauben wir sogar manchmal durch Liebesbeziehungen schmerzbefreiter oder leichter durch die Welt zu gehen. Vielleicht kennt ihr den Spruch: „Mein Leben ohne dich wäre einfacher, aber es wäre nicht mein Leben“? Leider erinnere ich den oder die Autorin nicht mehr. Allenfalls glaube ich, wenn wir annehmen durch Liebe Erlösung zu finden, ist das vielleicht nicht ganz verkehrt. Aber wenn wir meinen, dass Erlösung die Abwesenheit von Schmerz, Angst oder dergleichen ist, dann vergessen wir dabei einen springenden Punkt der Schöpfung, die Nietzsche als zweite Antwort auf die Frage, was die Liebe ist, stellt.
Schöpfung impliziert nämlich den Schmerz der Gebärerin aushalten zu können. „Schöpfung“ versteht sich ähnlich wie die Sehnsucht. Sie beschreibt auch eine dynamische Permanenz. Denn erst, wenn wir etwas erschaffen haben, erreichen wir einen stabilen Zustand. Aber dann sprechen wir nicht mehr von einer Schöpfung. Deshalb heißt die Schöpfung der Natur beispielsweise nichts was fertig oder zu Ende ist. Die Schöpfung der Natur gebärt sich permanent von Moment zu Moment. Selbst Steine - mögen sie sich auch noch langsamer als Schildkröten bewegen - verändern sich mit der Zeit. Bei der Liebe hingegen hegen viele von uns den Wunsch auf eine Liebe fürs Leben, das einhergeht mit dem Wunsch in der Liebe unsere Erfüllung zu finden. Es mag auch so sein, dass für viele von uns in dieser Art von Liebe die Erfüllung liegt. Allerdings wäre es fatal, wenn wir uns Erfüllung als etwas unveränderliches, immer gültiges und immer angenehmes vorstellen. Denn die Liebe, wie auch das Leben oder die Natur, bietet zwar die pure Fülle, aber nichts währt im Leben ewig. Ewigkeiten oder Absolutheiten sind Vorstellungen, die jenseits unserer Welt liegen. Trotzdem gehen wir in der Regel keine Liebesbeziehung ein, wenn wir wissen, dass sie morgen schon wieder Geschichte ist. Das wäre zu schmerzhaft. Eben deshalb benutzen wir das Wort „Liebe“ meistens auch nicht leichtfertig und unbedacht. Bei Dingen, Interessen oder Beschäftigungen mag uns das Wort noch leichter von den Lippen gehen, wie beispielsweise zu behaupten ein Lied zu lieben, obwohl wir es nicht wirklich so meinen, nächste Woche schon gar nicht mehr dran denken und es sogar vergessen werden. Bei Personen aber benutzen wir das Wort für gewöhnlich nicht unüberlegt. Wir wägen ab und entscheiden uns bewusst dafür. Obwohl wir vielleicht gar nicht im Detail begründen können, warum wir einen Menschen lieben, geht mit der Liebe eine bewusste Entscheidung einher. Vielleicht wägen wir beispielsweise ab, wie stark unsere Sehnsucht für eine Sache, Personen oder Beschäftigungen geweckt bzw. auch gedeckt wird. Schließlich trennen sich viele auch von Personen, Dingen oder Beschäftigungen, die sie noch lieben, aber ihnen nicht mehr gut tun oder nie wirklich gut getan haben, wie beispielsweise die Vorliebe zu Rauchen. Deshalb ist die Liebe nach Nietzsche auch ein Stern, weil sie uns Orientierung gibt. Sie ist uns wie ein Licht in der Dunkelheit. An ihr erkennen wir unseren Weg. Nicht selten behaupten Menschen, dass sie wegen der Liebe umgezogen seien. Außerdem gibt uns die Liebe Hoffnung, weil sie wie der höchste und schönste Stern über uns ist, wie David Bowie in seinem Coversong "A natural boy" darüber singt: Das Schönste, was wir in unserem Leben jemals erfahren können ist es geliebt und wieder geliebt zu werden.
Liebe ist aber vor allem ein Stern, weil sie uns selbst im Kontrast zum anderen erkennen und verstehen lässt. Sie funkelt also ganz besonders schön, wie ein Stern in der Nacht. Allerdings kommt es dabei auf das richtige Gewicht an. Schließlich sprechen wir in der Regel nicht von Liebe, wenn etwas furchtbar schmerzhaft ist. Aber wir erfahren auch, dass Liebe nicht die Abwesenheit von Schmerz ist. Die Erlösung, die wir uns durch Liebe erhoffen, liegt also nicht in der Abwesenheit von Schmerz, Angst oder anderen Störgefühlen. Sondern die Erlösung der Liebe liegt darin, dass sie unsere Herzen in ihrer Tätigkeit weit werden lässt. Als Liebene bleiben wir weich bzw. mild und sanftmütig, weil wir durch sie unser Bewusstsein unserer Einheit im anderen nicht als isoliert erfahren. Die Liebe macht uns zu Mitfühlenden. Dabei darf die Nacht aber nicht zu dunkel werden. Schließlich lassen sich Sterne schlecht durch Wolken erkennen. Das Gelingen der Liebe liegt also an einem entsprechenden Verhältnis der in Einheit sich bewegten Widersprüchen. Wenn einzelne Aspekte unseres Verhältnis überwiegen als andere, dann gerät das Verhältnis ins Schwanken, weil die "Widersprüche" dann keine Einheit mehr bilden. Ein Widerspruch impliziert nämlich ein Spannungsverhältnis. Andernfalls würden wir nicht von einem Widerspruch sprechen. Im Widerspruch muss eine Zugleichheit der beiden Seiten vorliegen, die sich unterscheiden.
Nietzsches Antwort, dass Liebe auch Stern ist, ist natürlich höchst poetisch zu lesen. Und wenn wir darüber nachdenken ist das vielleicht auch genau die Sprache, die die Liebe spricht? Denken wir nochmal an den Anfang, dass die Kunst der Liebe es vermag über das Sinnliche hinaus zu verstehen. Die Kunst gewährt allgemein den Raum sich universell und kulturunabhängig autonom sowie vorsprachlich auszudrücken. Letztendlich liegt es in den Augen des oder der BetrachterIn, was sie die Kunst interpretiert. Ebenso verhält es sich mit der Liebe. Immerhin hat noch niemand von uns sagen können, was die Liebe genau ist und selten können wir begründen, warum wir überhaupt etwas lieben. Aber es gibt unzählige Lieder, die die Liebe auszudrücken vermögen. Das soll nicht heißen, dass wir erst MusikerInnen werden müssen, um unsere Liebe auszudrücken. Wir alle haben dafür unsere ganz eigene Sprache und Melodie. Die Musik vermag aber die Liebe universell begreifbar auszudrücken. Das heißt, dass die Liebe eine Sprache ist, die wir alle sprechen und verstehen. Sie verbindet uns also über alle ethnischen Gruppen hinweg. Und die Liebe stellt uns vor die Aufgabe die Sprache der Liebe der anderen zu verstehen und unsere eigene Sprache adäquat verständlich auszudrücken. Liebe ist eben ein Gefühl, wofür es nur ein adäquates Wort gibt. Um dem Gefühl Liebe Stabilität zu verleihen, brauchen wir andere Wörter, um sie darin einzubetten. Wenn wir also sagen, dass die Liebe dynamisch und nicht statisch beschaffen ist, dann fordert ihre Dynamik uns zur Stabilität auf. Andernfalls würde sie sich unseren Stimmungen zuordnen und dann wäre sie aufgrund ihrer dynamischen Beschaffenheit wohl ziemlich launisch. Liebe ordnen wir aber unseren Gefühlen, Emotionen und Denken zu. Schließlich erleben wir die Liebe viel beständiger als Stimmungen, die plötzlich kommen oder gehen, weil sie eben dauerhaft präsent ist. Aber sie bleibt auch wie die Schöpfung der Natur ein permanent-dynamisches Gebären. Wenngleich natürlich manche Liebschaften so oft gewechselt werden, wie Unterhosen, ist das noch kein Beweis dafür, dass die Liebe immer wie ein sinkendes Schiff schaukelt. In der Regel würden wir bei derartigen starken Schwankungen auch nicht von „wahrer“ Liebe sprechen, sondern vielleicht nur über ein verliebt-sein oder noch nicht mal von einem „richtigen“ verliebt-sein, sondern einem verknallt-sein. Letztendlich beweist sich hieran nur erneut, dass es immer im Auge des oder der Betrachterin liegt, was Liebe heißt. Deshalb setzt unsere Defintion der Liebe die Individualität als Vorzeichen ihrer Verhältnisse. Was ist also Liebe?
Liebe ist ein
je dynamisch-individuelles Spannungsverhältnis
der Einheit von Widersprüchen.
Eigentlich fragt der Titel aber gar nicht danach, was Liebe ist, sondern was Liebe heißt. Wenn wir nach einem Namen fragen, wollen genau genommen etwas über die Identität und Bedeutung einer Sache wissen. Im Gegensatz zu der Frage nach dem Sein. Wenn wir fragen, was ist Liebe, dann wollen wir wissen wie die Liebe prinzipiell beschaffen ist. Wir wissen also immer noch nicht, was die Liebe bedeutet und laut unserer Definition, können wir darauf auch keine eindeutige Antwort geben. Wir müssen uns eben immer selbst ein Bild darüber machen, was die Liebe für uns bedeutet, sprich was sie für uns heißt. Ich hoffe hiermit nur gezeigt zu haben, was Liebe sein kann. Trotzdem möchte ich natürlich eine Antwort auf meine Titelfrage geben. Ich glaube, dass wir Antworten auf diese Frage im Austausch mit einander finden und zwar über das wahre Leben. Und deshalb erzähle ich euch zum Abschluss noch eine Anekdote der Liebe aus dem Leben meines Großvaters...
Mein Großvater wird mit seiner Volljährigkeit während des zweiten Weltkrieges eingezogen mit der Aufgabe Nachrichten zu überbringen und zu empfangen. Da er selbst kein überzeugter Nazi war und sich nicht anders zu helfen wusste, hoffte er darauf verletzt zu werden. Letztendlich hätte er auch sein Leben gegeben, wenn da nicht die Hoffnung gewesen wäre seine Geliebte wiederzusehen. Seine Hoffnung sollte sich erfüllen. Russische Soldaten schoßen ihn an und nahmen ihn in Gefangenschaft. Dort war es üblich alles abzugeben, was man besaß. Aber mein Großvater hatte etwas Glück und ihm blieb ein Foto seiner Geliebten. Der Anblick seiner Geliebten gab ihm weiterhin Hoffnung und die nötige Kraft durchzuhalten. Nach längerer Gefangenschaft kam es dazu, dass mein Großvater und einige andere Gefangene sich draußen vor den Zellen in einer Reihe aufstellen sollten. Manche sollten einzeln nach vorne treten. Auch mein Großvater musste vortreten. Er rechnete damit, dass er sodann erschossen wird. Er bat innerlich um den Anblick seiner Geliebten willen verschont zu bleiben. Und wieder sollte sich seine Hoffnung erfüllen. Darüber hinaus wurden er und sein Zellengenosse in die Freiheit entlassen. Zu Fuß machten sie sich auf den langen Weg nach Haus. Ihre Heimat war natürlich zertrümmert und die Geliebte meines Großvaters nicht mehr aufzufinden. Stattdessen traf er auf meine Großmutter. Aber er verliebte sich in sie nicht so, wie in seine Geliebte zuvor. Trotzdem verstanden meine Großmutter und mein Großvater sich zumindest gut genug, um wenigstens gemeinsam das Erbe meiner Großmutter, einen Apfelhof, wieder aufzubauen, vier Kinder miteinander zu zeugen und ihr ganzes restliches Leben miteinander zu verbringen. Mein Großvater erzählte, dass diese Liebe mit der Zeit immer größer wuchs. Letztendlich entbehrte mein Großvater einiges für diese Liebe. Er führte beispielsweise nie seinen Beruf als Tischler aus. Ebenso lebte er seine Passion als Dichter und Fotograf erst im höheren Alter aus. Aber er wurde nie ein professioneller Dichter und Fotograf. Genauso wie er niemals seinem Traum verwirklichte in Afrika zu leben. Meine Großmutter war immerhin bereit mit dorthin zu verreisen. Aber leben wollte sie dort nicht. Sie blieben eins bis meine Großmutter dann irgendwann verstarb. Er hätte nach ihrem Tod auswandern können. Schließlich verstarb meine Großmutter relativ früh. Er war noch nicht zu alt für einen Neuanfang. Vielleicht wollte er nicht von uns so weit entfernt wohnen. Ich erinnere seine genauen Gründe nicht mehr. Allenfalls schien er nicht unglücklich oder betrübt darüber. Er war Zeit seines Lebens dafür bekannt, dass er viel lachte und stets der Hoffnung zugewandt blieb. Nachdem meine Großmutter verstorben war und er einige Zeit alleine lebte, ging er eine weitere Beziehung mit einer Frau ein. Sie verbrachten weitere zwanzig Jahre zusammen bis auch sie starb. Er war längst ein sehr alter Mann geworden. Hatte schon über 16 Enkel*innen und mindestens sechs Urenkel*innen. Dachte er noch an seine Geliebte aus Tagen vor dem Krieg? Vielleicht. Er trug sie wohl immer noch in seinem Herzen. Aber seine Hoffnung sie jemals wiederzusehen war längst zu einer Geschichte geworden, die er wohl hätte niemanden von uns erzählt. Wenn sich da nicht doch noch plötzlich seine erste Hoffnung erfüllen sollte. Und er ihr eines sehr viel späteren Tages doch wieder begegnete. Ihr Mann war auch längst verstorben und so verbrachten sie doch noch einige Jahre zusammen. Wir wissen es nicht genau, aber sie teilten allenfalls nie offiziell das Bett miteinander. Schließlich schickte sich dies in den Augen seiner Geliebten nicht. Aber sie trafen sich wohl täglich, verreisten zusammen und wir luden sie selbstverständlich zu allen familiären Anlässen ein. Nachdem auch sie verstarb, wurde mein Großvater plötzlich dement. Er erinnerte sich im Grunde an sehr vieles, aber an nichts, das in den letzten zehn Jahren passiert war. Das aber der Zeitraum war, in dem er mit seiner Geliebten endlich zusammen sein konnte...
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