top of page

Mnemosyne - tanzt, tanzt! Sonst vergessen wir einander - über eine Kunst sich noch zu erinnern

  • Autorenbild: sophiasblog77
    sophiasblog77
  • 31. Mai
  • 17 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 12. Juni




Mnemosyne

- tanzt, tanzt! Sonst vergessen wir einander -

über eine Kunst sich noch zu erinnern


Zurecht erinnern sich manche bei diesem Titel entweder an Erzählungen aus der griechischen Mythologie über die Musen oder an Wim Wenders Dokumentarfilm über Pina Bausch. Schließlich möchte ich hiermit an die Mutter der Musen - die Mnemosyne - einerseits erinnern. Andererseits wird sich daran zeigen, das es überhaupt eine Kunst ist sich zu erinnern. Allerdings geht es hierbei weniger um die typische „Wiedererinnerung“, sondern schlechthin um das Denken - den Logos. Schlussendlich geht es um die Bedeutung des Tanzes als Moment unserer Menschwerdung und Inbegriff unseres Denkens. Wim Wenders, sein Dokumentarfilm über Pina, die Tänzerin und Choreografin Bausch sind also keine konkreten Gegenstände, sondern dienen für die folgende Unterredung „bloß“ zur Illustration… Wenngleich sich in Bausch Stücken insbesondere ein leibgewordenes Denkens verkörpert und deshalb auch die Aura der folgenden Gedanken ausdrücken können. Schließlich ist sie eine der ersten Choreogarf*innnen, die nicht nur unsere Emotionen zum Implus ihrer Choreografien nimmt, sondern vor allem unsere innige Verflochtenheit zu unserer Erfahrungswirklichkeit inmitten auf ihre Bühnen stellt und daran ihre Choreografien wachsen lässt.


Mnemosyne

Die Mutter der Musen und Göttin der Erinnerung und des Gedächtnis


Mnemosyne ist also die Mutter der Musen und die Göttin der Erinnerung des Gedächtnis. Hesiod stellt sie an den Anfang seiner Theogonie. Das heißt, dass sie am Anfang der Entstehung allen Seins - oder der Götter, Welt und der Menschen - steht. Während Hesiod die Mnemosyne namentlich erwähnt, spricht Homer nur von ihren Töchtern. Er stellt sie auch an den Anfang und zwar, indem er jede seiner Lehre folgendermaßen beginnt:


„Sage mir Muse…“.


Wir werden später sehen, dass das Musische überhaupt als Merkmal für die Wahrheit und Erkenntnis steht. Denn Homer und Hesiod sind die wichtigsten Dichter während des altgriechischen Sprachraumes. Wir beziehen uns in der Regel auf diese beiden Autoren, wenn wir über die griechische Mythologie sprechen, weil sie Einfluss nehmen auf unsere gesamte Gesinnung über unsere Weltgeschichte im Abendland. Wenngleich ihr aktueller Einfluss im Vergleich zur Zeit während des altgriechischen Sprachraumes natürlich sehr viel geringer ist. Ihr damalige Einfluss war nämlich enorm, weil die Schriften des Homer und Hesiods für mehrere hundert Jahre den Großteil unserer Pädagogik abdeckte.

Wir sollten hier aber nicht denken, dass wir früher etwas einfältig waren und deshalb unsere Pädagogik auf eine mythologische Götterlehre ausrichteten. Wir haben damals nicht einfach nur an die Musen oder die Götterlehre geglaubt und es für die Wahrheit gehalten, weil wir davon hörten und es keine anderen Erklärungen für die Welt gab. Vielmehr haben wir die Lehren des Homer und Hesiod erlebt und waren aus Erfahrung von ihnen überzeugt. Damit wir das nachvollziehen können, vergegenwärtigen wir uns einmal, was Mythologien überhaupt sind.


Die Mythologie bzw. der Mythos


Führen wir uns hierzu einen Mythos, der unabhängig von der griechischen Mythologie des Homer oder Hesiods entstanden ist vor Augen und zwar den über Sokrates, der Lehrer von Platon. Bei Sokrates müssen wir uns nämlich folgendes fragen:


Lebte er wirklich?

Verwickelte er tatsächlich seine Mitmenschen in Mitten der Agora in philosophische Gespräche?

Oder handelt es sich hierbei nur um eine fiktive Geschichte von Platon?


Zum Hintergrund: Sokrates ging als der weiseste Mann Athens in die Geschichte ein. Laut seiner Gegner habe er die Jugend verdorben, indem er sie nach ihren Überzeugungen hinterfragte. Er sei letztlich sogar gestorben, weil er der Sophia - der Weisheit - mehr beipflichtete als der Welt der Götter (vgl. Platon 1955: S. 5-36). Das alles finden wir also in Platons Dialogen. Aber ob Sokrates tatsächlich all diese Dinge tat, bleibt umstritten. Schließlich haben wir noch keine Schriften des Sokrates gefunden. Seine Existenz bleibt umstritten. Aber ganz gleich, ob Sokrates lebte oder nicht: Es ist eine Tatsache, dass die Geschichten über seine Gestalt so lehrreich sind, dass sie bis heute für uns bedeutend bleiben und er deshalb eine mythische Wirkung entfaltet.

Für uns stellt sich also vielmehr die Frage, warum Platon, der als ein Vater unserer abendländischen Philosophie gilt, sich der mythologischen Funktion bediente? Wieso gelten seine Dialoge nicht als Mythenlehre, sondern als Wissenschaft? Denn neben Sokrates gibt es eine Reihe anderer Ereignisse von denen bloß Platon berichtet und wir keine anderen Zeugnisse darüber finden, wie beispielsweise Atlantis. Warum suchen wir nach Spuren der Atlehten*in, aber nicht nach der Mnemosyne?

Nun eigentlich müssen nicht die Heimat der Mnemosyne und ihrer Musen suchen, weil von Hesiod wissen, dass die Musen am Berg Helikon wohnen:


"Mit den helikonischen Musen laßt uns beginnen zu singen,

die am großen und gotterfüllten Berg Helikon wohnen

und um die tiefblaue Quelle mit leichtem Fuß tanzen

und um den Altar des allgewalten Zeus"

(Hesiod, Theoginie 1-10).


In Mythologien, wie die des Homer und Hesiod, leben wir nämlich an jenen Orten, wo die Götter*innen wohnen. Das bedeutet, wenn wir am Helikon waren, dass wir uns mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar an die Musen erinnerten und womöglich ihrer Bedeutung wegen dem Helikon respektvoll sowie achtsam begegneten.

Lasst uns anhand der Bedeutung, Funktion, Struktur und Methoden von Mythen vertiefen, was es bedeutet, dass wir nicht bloß an Mythen glaubten, sondern sie vor allem erlebten. Und lasst uns daran zudem überprüfen, ob die Wissenschaften die Mythologie abgelöst hat, wie Aristoteles es behauptete unter seinem allbekannten Satz „Vom Mythos zum Logos“ (worunter er den Zeitraum der Vorsokratiker oder wie sie mittlerweile heißen die altgriechischen Philosophen einteilt). In der Regel subsumieren wir unter dem Satz einen Personenkreis von Thales bis Sokrates. Wenngleich wir nur die für unsere Philosophiegeschichtliche Entwicklung bedeutsame Personen nennen. Viele Größen, wie beispielsweise weibliche Vertreterinnen werden meistens gar nicht erwähnt. Das aber auch daran liegen mag, dass über ihre Zeugnisse bloß Wort-Fragmente erhalten sind.


a) Bedeutung


Mythen verstehen wir ähnlich wie Märchen: Es ist eine Geschichte über etwas, was es so in der Welt nicht gibt, aber eine Moral und/oder eine lehrreiche Funktion, die über die Welt und ihre Beschaffenheit diskutiert. Diese Lesart entspricht allenfalls dem platonischen Verständnis über die Mythenlehre der Dichter Homer und Hesiod. Dabei kritisiert er aber, dass die Beiden die Götter falsch dargestellt hätten, insofern sie ihnen nämlich menschliche Attribute zugeschrieben haben. Götter sollten nur als gute Wesen dargestellt werden, da sie vollkommen seien (vgl. Platon, Politeia, 381c). Deshalb sei nach Platon eine Mythenlehre eine unwahre Erzählung (vgl. Horn und Rapp 2008: S. 289 f.). Allerdings müssen wir hierbei auch wissen, dass Platon das Wahre oder die Wahrheit wie eine Arznei gebrauchen wollte. Nicht alle sollten beispielsweise wissen, wie die beiden Dichter die Götter darstellen. Für die Allgemeinheit sollte bloß das Gute an den Göttern gelehrt werden. Über das Böse der Götter, das die beiden Dichter ebenso darlegen, sollen nur Verständige bzw. die lenkenden Personen eines Staates eingeweiht werden. Wir sehen also, dass Platon den Begriff der Wahrheit willkürlich einsetzt und wir uns besser deshalb nicht auf sein Mythen-Verständnis stützen sollten.

Denn der Begriff „Mythos“ stammt von dem griechischem Wort „Mythus“ ab und heißt „Erzählung“ und „Fabel“ (Regenbogen und Meyer 2013: S. 436). Hier taucht eine erste Schwierigkeit auf, da im Deutschen eine Fabel eine Erzählung sein kann, aber eine Erzählung nicht immer eine Fabel ist. Denn eine Erzählung kann wahr sein und zwar in dem Sinne, dass sie mit einer Tatsache der Wirklichkeit übereinstimmt. Bei einer Fabel hingegen handelt es sich per se um ausgedachte Geschichten, die meistens eine Moral beinhaltet, wie beispielsweise Geschichten über Götter (vgl. ebd., S. 436). Außerdem heißt „Mythus“ auch „Rede“ und „überlieferte Erzählung“. Letztlich können wir zusammenfassen:


„Der Mythos hat eine narrative Struktur; erzählt werden bestimmte wiederholbare Ereignisse, die außerhalb von Raum und Zeit liegen und ansetzen an bestimmten Knotenpunkten der menschlichen Existenz“

(Jamme:  Mythos: Kolmer und Wildfeuer (Hrsg.) 2011: S. 1552).


Außerdem wird „Mythos“ während des altgriechischen Sprachraumes bis Heraklit synonym verwendet mit dem Begriff „Logos“. „Logos“ bedeutet nämlich auch „Lehre“, „Rede“, „das sinnvolle Wort oder das Wort eingebettet in sinnvollen Sätzen“. Mitunter verstehen wir unter Logos auch „Sammlung“ oder schlechthin das „Sammeln“, womit der Logos im Grunde alle intellektuellen Tätigkeiten von Körper und Geist umfasst. Hierzu sollten wir daran denken, dass es während der Antike noch keinen Körper-Geist-Dualismus gibt und wir Körper und Geist als Einheit verstehen. Heraklit ist also der erste Philosoph, der „Logos“ nicht mehr mit „Mythos“ vermischt. Sein posthum definierter Antipoden (Gegenspieler) Parmenides verwendet „Mythos“ und „Logos“ zum Beispiel synonym und zwar für seinen Wahrheits-Begriff. Übrigens tritt Platons Philosophie mehr in die Fußstapfen des Parmenides, weil er mit ihm die Ansicht teilt, dass das ontologische Primat unserer Welt ein verändertes Sein zugrunde liegt. Heraklit hingegen, weshalb er auch als Antipoden des Parmenides posthum bezeichnet wird, legt dar, dass der Logos das ontologische Primat sowie Prinzip sei, woran alles und alle gleichermaßen partizipieren und sich entfalten. Damit aber begründet er ein dynamisches Weltbild, das also der ontologischen Ansicht des Parmenides widerspricht. Nach Heraklit stimmt die Logos-Struktur mit den Lehren zur Harmonie überein; also über die Ordnungen des Kosmos sowie der Musen. So denn finden wir in seiner Philosophie zahlreiche Sätze über die Natur und des Musischen, womit er die Logos-Struktur erklärt.

Nebenbei bemerkt diskriminiert Aristoteles Heraklit übrigens sowie auch seine Logos-Lehre, obwohl Heraklit eigentlich den Vater seines Slogans, Vom Mythos zum Logos, darstellt. Schließlich verwendet Heraklit als erster "Logos" unabhängig vom "Mythos". Außerdem vertritt Aristoteles mitunter ein dynamisches Weltbild, wobei er letztendlich von einem unbewegten Beweger als ontologisches Primat spricht. Aber für Aristoteles bleibt ebenso die Dynamik der Welt der Materie, sprich die Erfahrungswirklichkeit und ihre Gegenstände, wie die Natur, für unsere Erkenntnis und unser Denken maßgebend.


b) Funktion


Ein Mythos liefert also Erklärungen für Phänomene in der Welt. Dabei hat der Mythos nicht den Anspruch über tatsächliche Ereignisse zu sprechen, sondern er hat die Freiheit über hypothetische Ereignisse zu diskutieren. Meistens verbindet er unterschiedliche Diskurse, wie kulturelle und religiöse Debatten über Schuld und Unschuld oder wie Geschichten über gesellschaftliche Entwicklungen. In der Regel wird der Mythos durch fünf thematische Kategorien unterschieden:


  1. Der theogonische Mythos stellt die Geburt und Entstehung der Götter dar.

  2. Der kosmogonische Mythos zeigt, dass die Welt durch das Wirken der Götter entstanden sei.

  3. Der kosmologische Mythos handelt von der Entwicklung und der Gestaltung der Welt.

  4. Der soteriologische Mythos beschreibt die Erlösung des Menschen

  5. Der eschatologische Mythos behandelt das Ende der Menschen und Götter.


Für den Begriff oder die Idee des Mythos gibt es also mehrere Definitionen, die sich mit dem Geist der Zeit verändern:


„[Und deshalb gibt es keine] Gesamtgeschichte des Mythos, sondern nur diverse Mythen-Begriffe der Einzelwissenschaften (…)“

(Jamme: Mythos: Kolmer und Wildfeuer (Hrsg.) 2011: S. 1553).


c) Struktur


Hiermit können wir festhalten, dass Mythenerklärungen neben wissenschaftlichen Theorien stehen. Schließlich offenbaren sie etwas über die innersten Strukturen und den Zusammenhalt der Welt. Und scheinbar sind sie ähnlich glaubhaft. Ebenso treten sie weiterhin an die Stelle von Wissenschaften für jene Rätsel, die noch keine wissenschaftliche Erklärung haben. Mythologische Erklärungen sind also noch nicht ersetzt oder stehen in einer Rangordnung unter wissenschaftlichen Theorien.

Dabei kann ein Mythos lehrreich sowie ästhetisch sein, wie beispielsweise die Lehrgedichte des Homer und Hesiod. Und auch noch später, wie bei Parmenides. Doch im Vergleich zu einer bloßen Dichtung hat der Mythos noch eine andere bedeutende Funktion: Nämlich die, das an einem Mythos etwas Wahres ist. Doch woran liegt das?


Hier kommen Aspekte zusammen, die sozusagen die ganze Medaille der Mythologie ausmacht. Und das sind die Musen. Die Musen haben nämlich eine doppeldeutige Bedeutung während des altgriechischen Sprachraumes. Auf der einen Seite haben wir die Musen-Lehre nach Hesiod, das sie nämlich all diejenigen von ihrem Schmerz und Kummer befreien, die an sie glauben. Ebenso werden diejenigen in ihrer Rede und Überzeugung gestärkt. Allerdings sollten wir nicht denken, dass ein bloßer Glaube ohne körperlichen Einsatz damals auskommt. Das Musische wurde von jedermann - zeitweise auch von Frauen - trainiert, wie beispielsweise im altgriechischen Theater, wo nämlich die Bürger*innen der Polis (Stadt) eine Antilogie (Rede gegen Rede) vortrugen. Aber auch im alltäglichen Geschäft begegnet uns das Musische. Sie nehmen nämlich nicht bloß eine zentrale Rolle im Leben der Menschen ein, weil sie am Anfang in Hesiods Theogonie stehen oder weil Homer sie, wie ein Wahrheitsserum, an jeden Anfang seiner Lehrgedichte stellt.

Vielmehr stehen sie überhaupt am Anfang unserer Menschwerdung, das sich am altgriechischen Rhythmusverfahren des musischen Verständnis zeigt. Während des altgriechischen Sprachraumes verstehen wir die Musen lange noch als Einheit. Es gibt noch keine autonomen Künste, wie die Musik. Das aber nicht ausschließt, dass es keine rein instrumentellen Darbietungen gegeben hatte. Vielmehr bedeutet es, wenn wir beispielsweise den Begriff „Mousikë“ hörten, das wir dann nicht bloß an unser ähnlich klingendes Wort Musik gedacht haben. Im altgriechischen Sprachraum gab es nämlich noch gar kein Wort für die Musik. Unter Mousikë verstehen wir seinerzeit die Einheit von Dichtung, Rede, Gesang und Tanz. Das wiederum seinen Grund im altgriechischen Rhythmusverfahren findet. Denn die Musen partizipieren alle an derselben rhythmischen Struktur, die letztendlich vom Tanz her abgeleitet ist.

Das altgriechische Rhythmusverfahren gestaltete sich additional. Das bedeutet, dass auf ein Takt ein weiterer folgt, der aber in Abhängigkeit zum anderen steht und zwar in seiner Dauer. Wir beginnen immer mit einem kurzen Takt, genannt „Kürze“. Dieser erste Takt ist dann maßgebend für alle weiteren und heißt deshalb „Chronos Pronos“ - die erste Zeit. Der zweite Takt ist die Verdopplung der sogenannten ersten Zeit, genannt „Länge“. Darauf folgt also wieder eine Kürze, die die Verdopplung des vorigen Taktes ist (die Länge). Wir können auch mehrere Kürze hintereinander addieren, aber müssen das dann in der Berechnung der Länge berücksichtigen. Hieran sehen wir schon, dass das Verfahren sehr stabil ist und von festen Körper abgeleitet wurde. Im Vergleich zur abendländischen Musikkomposition verdeutlicht sich die unumstößliche Stabilität des altgriechischen Rhythmus, weil unsere Musik durch Multiplikation und Division komponiert wird, wodurch beispielsweise sogenannte "Nullpunkte" entstehen. Der altgriechische Rhythmus kreiert also, ob in der Dichtung, dem Gesang oder der Rede einen galoppierenden Sound, das also dem Ausdruck des Tanzes entspricht. Denn Tanz mag zwar schlechthin in Körpern höchst dynamischer Ausdruck sein, bleibt aber gerade aufgrund seiner Gebärde ausschließlich in Körper unumstößlich stabil. Daher finden wir beispielsweise in der musischen Fachsprache auch immer noch Ableitungen vom körperlichen Ausdruck des Tanzes, wie „Fuß“, „Vers“ oder „Maß“.

Ebenso nach diesem Prinzip der körperlich-festen Einheiten des rhythmischen Verfahrens, war auch die altgriechische Sprache festgelegt, womit sich erklärt, warum die Mythologie der Musen nicht bloß eine Geschichte war, sondern warum wir ihre Geschichte im alltäglichen Geschäft erlebten.

In der altgriechischen Grammatik war die Länge der Betonung jeder Silbe festgelegt. Anders als in abendländischen Sprachen, wie das deutsche Wort „Vater“, können einzelne Silben unterschiedlich lang betont werden ohne dabei ihren Sinn zu verfälschen. So können wir die erste Silbe von Vater (Vaa-ter oder Vaaa-ter) individuell-unterschiedlich lang betonen, aber identifizieren das Wort immer noch mit derselben Bedeutung. In der altgriechischen Sprache sowie in ihrem Rhythmusverfahren haben wir also keine individuellen Räume. Wenn wir beispielsweise in einer altgriechischen Dichtung ein Wort austauschten oder es an eine andere Stelle setzten, dann klang es so falsch als würden wir ein Wort falsch ausgesprochen haben. Außerdem überträgt die Phonetik des altgriechisch-gesprochenen Wortes ein sinnvoll verständliches, weil sie ähnlich wie die Musik heute einer rationalen Struktur folgt. Wir sehen hieran also eine bedeutende Nähe zwischen dem Musischen und dem Logos.


d) Methode


Das heißt also, dass das altgriechische Rhythmusverfahren für Lehrgedichte ein Schutz vor Missbrauch war. Die Mythenlehren des Homer oder Hesiod konnten beispielsweise nicht ohne weiteres umgedichtet werden. Das wussten natürlich nicht nur die Gelehrten, sondern vor allem auch alle anderen Griechen*innen. Schließlich wurden Lehrgedichte meistens mündlich vorgetragen, weil wir noch nicht das entsprechende Equipment hatten, um es zu vervielfältigen. Wir mussten also richtig Erinnern und vor allem gut zuhören, sprich im wahrsten Sinne des Wortes hinhorchen, wenn wir eine Dichtung wiedergeben wollten und unsere Hörerschaft sie mit dem Wahren - dem Original - identifiziert. Das, woran wir also bei der griechischen Mythologie geglaubt haben, war ihre Echtheit und zwar unmittelbar bezogen auf unsere Erfahrungswirklichkeit. Das Wahre war also nicht einfach ein Erkennungsmerkmal wegen der Musen, die Töchter der Göttin Mnemosyne. Sondern die musische Struktur stimmte mit den Strukturen unserer Wirklichkeit überein. Deshalb galt das Musische als wahr bzw. echt oder authentisch. Schlussendlich entsprach die musische Struktur unserer Sprache in Wort als Ausdruck unseres Denkens sowie auch unserer Sprache in Gebärden als Ausdruck unseres Tanzes. Die Methode von Mythologien zeichnete sich also vor allem dadurch aus, dass sie sich zwar in gehobener Sprache - durch Dichtung - ausdrückten, aber damit immer noch denselben Rhythmusstrukturen unserer Sprache, ob in Wort oder durch Tanz, wiedergaben.

Hiermit verwundert es nicht, dass die Mutter der Musen die Göttin der Erinnerung und des Gedächtnis heißt. Schließlich verstehen wir erst die Musen, wenn wir uns richtig an ihr Wort erinnern. Allerdings zeigt sich, dass dieses Erinnern nicht so gemeint ist, was wir heute darunter verstehen. Vielmehr ist es allgemein mit unserem Denken als Tanzendes oder Überschreitendes verbunden. Sicherlich lernten wir zwar Lehrgedichte, beispielsweise des Homer und Hesiod, auswendig. Aber es muss uns nicht so schwer gefallen sein, wie es uns heute schwer fällt Vokabeln auswendig zu lernen. Schließlich entsprach die rhythmische Struktur der Dichtung ohnehin unserer sprachlichen Struktur, die wiederum abgeleitet waren von unserem Denken in Körpern, dem Tanz. Wir bewegten uns also ohnehin schon permanent in denselben „Ton“. Die Göttin der Erinnerung und des Gedächtnis verkörpert also kein zurückfallen oder Schwelgen in einem es-war-einmal, sondern es galoppiert nach Vorne. Schließlich umfasst unser Gedächtnis den Sammelplatz von allem Denken, ob in Logik, Sprache, Bewegung oder Kunst. Und da die "Mutter" unserer Musen letztlich auf den Tanz zurückzuführen ist, sehen wir, dass das musische Erinnern schlechthin das Denken beschreibt, weil Tanz eben, wie unser Leben, bloß nach vorwärts geht. Erinnern bezeichnete also nicht bloß das, was nicht-mehr-bewusst war und durch die Erinnerung wiederbelebt wird. Vielmehr belebte das Musische etwas und zwar schlechthin unsere Aufmerksamkeit auf die Aktivität unseres Denkens und zwar in Leib und Geist.

Die Mythen des Homer oder Hesiod nehmen also nicht allein wegen ihres Inhalts noch Einfluss auf uns, sondern es ist ihre, die ihr Wort öffnet zum stets Interpretationswürdigen. Wir haben es bei Mythologien im Allgemeinen mit musischen Formen zu tun und die drücken eben keine eindeutigen Erkenntnisse über die Welt aus. Sondern das Musische, wenn heute die Künste zwar keine Einheit mehr bilden, umfasst holistisch unsere Erkenntnisse über die Welt. Mit unter finden wir im Musischen sowie in Mythologien, beispielsweise als schriftlicher Ausdruck, zahlreiche sprachliche Figuren, wie Allegorien, Metaphern oder Gleichnisse. Musische „Ergebnisse“ oder Werke nehmen also eine dynamische Wirkung. Während beispielsweise mathematische Urteile, wo wir von „Ergebnissen“ sprechen, ein statisches Bild hinterlassen. Schließlich können mathematische Urteile zwar erkenntniserweiternd sein, weil sie synthetisch sind, aber sie bringen uns eindeutige Urteile. Wohingegen das Musische nicht bloß unsere Erkenntnis erweitert, sondern unseren Horizont, weil ihre Urteile mehrdeutig bleiben. In concreto machen wir beispielsweise bei der Musik die Erfahrung, dass sie die Liebe auszudrücken vermag, wo die Worte unserer Sprache längst an ihre Grenzen kommt. Schließlich ist Liebe nichts, was sich eindeutig für alle definieren ließe. Das, was die Musik oder das Musische also darüber vermag, ist eben (ein vorsprachliches) semantisches Begriffsfeld zu öffnen, bei denen wir die Ideen und die Aura der Liebe, so schmecken, wie wir sie sonst auch erleben und zwar mehrdeutig, stets unterschiedlich. Darüber hinaus stehen wir mit unseren Begriffen, wie der Liebe, in der Musik aber nicht isoliert, unverstanden und allein. Sondern wir begegnen uns gegenseitig in einem offenen Feld, wie eine Blume auf einer Blumenwiese, weil es alle sind, die die Schönheit oder Wirklichkeit der einen Blume beschreibt. Deshalb heißt es hier:


Tanzt, tanzt! Sonst vergessen wir einander


Im Tanz also liegen unsere musischen Wurzeln, die aber längst sehr weite Verzweigungen angenommen haben. Schließlich verstehen wir unter dem Musischen keine Einheit mehr. Ebenso sprechen wir eigentlich nicht mehr vom Musischen, den Musen oder der Muse, wenn wir eine Einzelkunst, wie den Tanz oder die Musik bezeichnen wollen. Unser Obergriff ist dafür heute die Kunst. Ihre altgriechische Etymologie heißt „technê“ und bedeutet eigentlich Kunstfertigkeit sowie auch Wissen. Teilweise sammelten sich unter die technê Lehren über die sogenannte askêsis, die ihrem Sound nach unserem deutschen Wort „Askese“ ähnelt. Unter beiden Begriffen verstehen wir eine geistige Art, die sich auf die Formung der Person ausrichtet, die sich dann als rationale Fähigkeit habitualisiert (eine Handlung bzw. Aktivität, die zur Gewohnheit wird) und situativ angewendet werden kann (vgl. Horn und Rapp (2008): Wörterbuch der antiken Philosophie, S. 423 ff. München: Becksche Reihe). Im Allgemeinen aber umfasst die technê Experten*innenwissen, das Anwendung findet durch Kunst, Handwerk, Praxis, Wissenschaft und Philosophie.

Wir sehen also, dass das Musische eine andere Bedeutung für unsere Lebenswelt während des altgriechischen Sprachraumes versteht. Das Musische bezeichnete im Grunde das Moment, was uns Menschen auszeichnet und wir alle miteinander gemein haben: Und zwar unsere denkende Seele durch die wir nicht bloß unsere Welt verstehen sowie begreifen. Sondern vor allem durch die wir überhaupt erst atmen. Denn unter Seele verstehen wir während des altgriechischen Sprachraumes schlechthin den Atem, der den Körpern das Leben einhaucht. Und Platon pflichtet dem Musischen bzw. dem Rhythmus nicht ohne Grund die höchste Bedeutung der Menschwerdung bei, wenn er schreibt:


„Deshalb also (…) ist die Erziehung durch Musik so überaus wichtig, weil am tiefsten in die Seele Rhythmus und Harmonie eindringen (…)“

(Platon, Politeia., 401 d).


Wir wissen längst, dass nicht nur Platon dieser Überzeugung ist. Vielmehr stützt Platon hiermit den mächtigen Einfluss von Homer und Hesiod. Schließlich beginnt alle Menschwerdung sowie Verstehen (Lehre, Logos, Unterredung, Sinn usw.) eben mit den Musen, die Töchter der Mnemosyne, Göttin der Erinnerung und des Gedächtnis.


...."Sage mir Muse"...


Mit Heraklit lässt sich am Einfachsten eine Brücke schlagen vom innigen Verhältnis der Seele und dem Rhythmus. Denn für ihn hat die Seele einen Sinn, d.h. sie hat einen Logos, der sich permanent anreichert. Deshalb könne man die Seele letztendlich auch nie durchdringen. Das sogar noch unserem neuzeitlichen Alltagsverständnis entspricht. Schließlich können wir uns selbst auch niemals durchdringen, weil wir permanent neue Erfahrungen sammeln. Unser Problem bleibt dabei, dass wir unser Jetzt nicht erleben können. Wir wissen immer erst posthum, wie wir etwas erlebt haben. Aber wir bedenken gar nicht alles von dem, was wir erfahren, im Nachhinein. Schließlich sind wir mehr mit dem Erleben selbst beschäftigt und weniger mit unserer Reflexion über unser Erleben. Das heißt, dass wir die meiste Zeit unseres Lebens nicht bewusst erleben, sondern unbewusst. Beispielsweise verrichten wir unzählige Dinge auf die wir gar nicht mehr achten, wie unseren Weg zur Arbeit. Letztlich führen wir Gespräche ohne anschließend darüber nachzudenken, wie wir uns dabei eigentlich gefühlt haben. Erst wenn uns jemand anderes oder wir uns selbst danach fragen, wie wir unseren Arbeitsweg heute oder das letzte Gespräch erlebt haben, denken wir darüber nach und können (nur) eventuell eine Antwort darauf geben. Oft können wir uns schon gar nicht mehr an unseren Arbeitsweg erinnern und auch nicht mehr an alle Inhalte unseres letzten Gesprächs. In der Regel, wenn wir uns nicht erinnern können, hatte uns nichts gestört und wir können zumindest ein inhaltsloses „gut“ sagen. Aber was daran gut war, können wir meistens gar nicht mehr sagen.

Wer weiß, ob wir während des altgriechischen Sprachraums unsere Arbeitswege beispielsweise noch bewusster erlebten, weil die Orte, an denen wir lebten, musisch aufgeladen waren, wie der Berg Helikon als Heimat der Musen.

Das Besondere der Musen - die Einheit von Dichtung, Rede, Gesang und Tanz - ist, dass sie uns ein unmittelbares Verhältnis zwischen unserer Erfahrungswirklichkeit und unserem Erleben gewähren. Leider ist das altgriechische Rhythmusverfahren nur noch in der Theorie nachzuvollziehen. Wir können es bloß in Teilen noch in der Dichtung praktisch nachahmen, wie beispielsweise Goethe noch im Hexameter dichtet. Aber uns ist immer noch unsere Wurzel des Musischen geblieben, die wir alle kennen und vor allem alle selbst am eigenen Körper nachempfinden können: Und zwar der Tanz.

Während wir tanzen wird permanent unsere Aufmerksamkeit holistisch auf unsere Erfahrungswirklichkeit gerichtet. Wenn wir nämlich einmal unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten, geraten wir außer Atem, aus dem Takt oder stolpern sogar. Und hierbei ist es wichtig zu verstehen, was das Wort „holistisch“ meint. Es nicht bloß ein schickeres Wort für „ganzheitlich“. Wir beziehen uns hierbei nicht bloß auf unseren Leib und meinen damit die Einheit von Körper und Geist. Sondern der Tanz bringt den Raum, den Rhythmus, die Zeit und unseren Leib in einen Einklang und also in Resonanz. Ein Tanz gestaltet sich durch die Beschaffenheit dieser vier Elemente. Der Raum in einem Auto beispielsweise kreiert sehr viel kleinere Bewegungen als der auf einer Bühne. Der Tanz ist nur gegenwärtig präsent, aber nicht losgelöst von der Vergangenheit und der Zukunft. Wir haben einen taktvollen Mitvollzug der Zeit während Tanz. Der letzte Takt bestimmt nämlich schon den Nächsten. Ebenso bringt jeder Leib seine eigene physische Beschaffenheit, aber auch seine psychische oder mentale Einstellung mit, woraus sich letztlich die Dynamik des Rhythmus vom Tanz gestaltet. Aber und hier kommt der altgriechische Charakter der Musen zum Ausdruck: Der Rhythmus vom Tanz bleibt stabil und ist trotzdem dynamisch. Denn hier bewegen sich Körper, deren Gebärde immer Ganz und voll ist, auf die eine Nächste folgt. Die Schritte im Tanz können nicht dividiert oder multipliziert werden, wie beispielsweise in der Musik. Tanzschritte werden addiert. Wenngleich wir auch von halben Takten sprechen können. Aber damit verringert sich bloß die Länge oder Kürze eines Taktes des Tanzes.

Das aber, was der Tanz besonders erinnert, ist, dass unsere Erfahrungswirklichkeit unser Gemeinplatz ist. Sein Element des Raumes hatte es eben schon angedeutet, weil die Beschaffenheit des Raumes maßgeblich für die Form des Tanzes ist. Aber vielmehr ist hiermit noch etwas anderes angesprochen. Und zwar verbindet uns der Tanz über alle ethnischen Gruppen hinweg und macht uns wieder zu Blumen auf einer Blumenwiese. Letztlich bleibt er vorsprachlich, weil wir ihn unabhängig von unserer Muttersprache sprechen. Er zeigt uns, was alle gemeinsam haben und jeden Moment erfahren ohne es bewusst erleben zu müssen: Unser Denken in Körpern. Das heißt nicht, dass wir im Grunde alle nur gleich sind und nicht individuell verschieden. Aber es heißt eben auch nicht das Gegenteil, sondern es bedeutet, dass wir jeden Moment unseres Daseins das Sowohl-als-Auch dessen sind:


Wir sind uns gleich und verschieden, wie Blumen auf einer Blumenwiese sich gleichen und unterscheiden.




Daran erinnert uns also der Tanz ohne dafür in ein Posthum zu verfallen, sondern in seinem Überschreiten selbst liegt unsere Erinnerung an unser transzendentales Wesen und Dasein in der Wirklichkeit.


An dieser Stelle möchte ich zuletzt an die Stücke der Pina Bausch noch erinnern, weil eben sie das Denken in Körpern ausdrücken. Außerdem mag zwar der Tanz ein wunderbares Instrument sein unser Denken in Körpern unmittelbar bewusst zu erleben. Aber auch die Philosophie überhaupt mag andersherum unser Tanzen im Denken ausdrücken.


*Das Titelbild zeigt übrigens kein Abbild der Mnemosyne, sondern soll die Fruchtbarkeitsgöttin darstellen, die als erstes Kunstobjekt in unserer Geschichte gilt. In Anlehnung an die Bedeutung der Mnemosyne als Mutter der oder unserer Musen, die im Anfang unser aller Werdung steht, steht die Göttin also für den Anfang. Es bleibt übrigens umstritten, ob es zuerst ein dicke oder dünne Fruchtbarkeitsgöttin gegeben haben soll. Auf dem Foto ist ein Kettenanhänger abgebildet, das ich einige Male an unterschiedlichen Stellen belichtet habe, sodass im Grunde drei Göttinnen zu sehen sind. Bei denen aber eigentlich klar ist, dass es sich nur um eine handelt, weil die anderen beiden dunkler sind und in den Hintergrund tauchen. So sollte es also so wirken als würde die eine Göttinnen-Figur in ihrer ganzen Stabilität hin und her schaukeln bzw. tanzen.


 
 
 

Comments


bottom of page